Oberer Totpunkt - Desiderat

Review

Nicht nur in Hamburg, der Heimatstadt dieses abgefahrenen Duos, gab es in den frühen 80er Jahren, zur Zeit des kalten Krieges, der postapokalyptischen Angst und im Zuge der von England aufs Festland schwappaneden New Wave, eine stattliche Anzahl an Künstlern, die verneinende, kalte und gefährliche Musik produzierten. Musik, die anklagend und böse war, die sich gegen Gleichschaltung, Mediendiktatur und Kriegstreiberei aufbäumte, und mit ihrer mitunter undurchdringlichen, wahnsinnigen deutschen Lyrik viele Menschen überforderte. Gleichzeitig bedeutete dieser Ansatz einen wichtigen Schritt in Richtung musikalische Integrität und Abbildung der Realität. Die heile Welt war vorbei, in der Gesellschaft herrschten banges Fragen und Unsicherheit vor.

OBERER TOTPUNKT sind zwei Musiker, die einen ähnlichen Ansatz verfolgen, in ihren Inhalten aber noch einen Schritt weiter gehen. Die weiblichen Vocals sind geprägt von philosophischen Ausführungen und existenziellen Fragen, verarbeiten aber auch menschliche Emotion und psychische Abgründe. Nur selten bieten die Songs organische Schemata (am ehesten noch beim Opener „Es War Immer So“), ansonsten bietet „Desiderat“ verworrene, keinen Strukturen folgende Ambient-Fetzen, die vermutlich genau das auslösen, was beabsichtigt ist: Eine Menge Orientierunglosigkeit. „Ich fürchte mich so vor den Menschen“ heißt es bei „Spiegel im Käfig“ in betörend-verstörendem Sprech-Sing-Sang, gesellschaftliche Zwänge, Depressionen, zwichenmenschliche Konflikte und eine tiefe, durchdringende Hoffnungslosigkeit sind das zentrale Element des textlichen Konzepts. Bei Nummern wie „Sei auf der Hut!“ scheut sich Sängerin und Dichterin Bettina Bormann nicht, weitgehend reimlose Zeilen in Textform über die elektronische Hintergrundmusik zu sprechen, ähnliches passiert bei „Hab keine Angst, mein Freund“, das ein klagender, in Ansätzen irgendwie hoffnungsvoller Abgesang auf das Leben ist. Schwere Kost, und mit Punkten eigentlich nicht zu bewerten, weshalb die 6, die unter dieser Rezension stehen, unter Vorbehalt zu betrachten sind.

Musikalisch ist „Desiderat“ eine für Metalfans im Grunde nur wenig relevante Mischung aus Geräuschkulissen und Techno-Sounds (man verzeihe mir in diesem Falle angesichts meiner mangelnden Kenntnisse auf diesem Gebiet den Verzicht auf eine genaue Kategorisierung). Das ein oder andere Gitarrenriff sorgt für eine gewisse Nähe zu NDH und Industrial in einigen Tracks.

OBERER TOTPUNKT machen Musik, die nicht der Unterhaltung dient, sondern die als eigenständige Kunstform zu begreifen ist, als philosophischer Tanz auf dem Vulkan, die mit der Erwartungshaltung der Menschen spielt. Kein Zweifel kann daran bestehen, dass die Musiker selbst nur allzu gut wissen, dass es mit positivem Feedback, Enthusiasmus und vor Allem kommerziellem Erfolg ganz und gar schwierig wird. Desiderat ist ein Monolith für Menschen, die die Grenzen der Unterhaltungsmusik längst hinter sich gelassen haben und die ständig auf der Suche sind nach neuen Ausdrucksformen, um ihre Weltansichten zur Diskussion zu stellen.

Eines hat das Fragezeichen hinterlassende Duo schon jetzt erreicht: Gängige Notenskalen werden durch die Andersheit ihrer Kunstform gesprengt, und zwar sowohl nach oben wie nach unten.

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19.04.2014

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