Netra - Mélancolie Urbaine
Review
Ein ganz besonderes Solo-Projekt ist NETRA aus Frankreich. 2003 gegründet, liegt nun das Debütalbum „Mélancolie Urbaine“ vor, mit welchem sich Netra, das Pseudonym des Mannes hinter dem Projekt, zwischen alle Stühle setzt. Denn was uns Steven Le Moan, so sein bürgerlicher Name, hier vorsetzt, dürfte jeglichen Scheuklappendenker angewidert weghören lassen.
NETRA sind Black Metal, doch das ist nur die halbe Wahrheit. Gekonnt wird hier die depressivste Variante dieser Stilrichtung, mit Trip Hop und sphärischem Post Rock vereint. Klingt verrückt, ist aber so, und macht dabei auch noch Sinn. Denn zumindest die düstere Grundstimmung ist in diesen Genres durchgehend enthalten. Im Falle von NETRA klingen die vertonte Traurigkeit und Verzweiflung auch echt authentisch, man fühlt sich in das Stadtleben von seiner hässlichsten, abscheulichsten Seite versetzt mit dunklen, dreckigen Straßen, tristen Gebäuden, Verkehrslärm, anonyme Menschen überall.
Durchgehend langsame Rhythmen prägen den Verlauf von „Mélancolie Urbaine“, welche sich aber auch zum treibenderen Midtempo steigern. Den Anfang macht das hypnotische „City Lights“ – wer kennt nicht die kalten Lichter der Großstadt – mit Drumcomputer, Samples, Klaviertönen, und erst nach 2 Minuten allmählich einsetzenden verzweifelten Schreien, echtem dynamischem Schlagzeug, verzerrten Gitarren und Flüstern. Eine wahrlich dunkle, tieftraurige Kakophonie. Nein, die Lichter der Stadt erleuchten den Protagonisten wahrlich nicht. Das folgende „La Page“ wiederrum erinnert in seiner Grundstruktur eher an 80er Jahre Wave Rock, hat oszillierende Keyboards und Elektroschlagzeug, ehe sich auch hier unvermittelt keifiger Kreischgesang und freischwebend-disharmonische Riffs dazugesellen. Hier wird auch zum ersten Mal klar mit warmer Stimme gesungen, wenn auch nur kurz, passt aber hervorragend zum Stück. Im Stil der beschriebenen Songs geht das Album weiter. Elektrobeats Marke Trip Hop wechseln mit rockigen/metallischen Rhythmen vom Schlagzeug, sphärische Synthesizer-Klangteppiche und Samples mit verzerrt riffenden Gitarren, Gitarrensoli, die schon ein wenig Jazz in sich atmen, und der Gesang wechselt von Flüstern und klar bis zu heiseren Verzweiflungsschreien. Um mal ein paar musikalische Vergleiche zu wagen, werfe ich hier FORGOTTEN TOMB, KATATONIA, SHINING, MANES und BOHREN UND DER CLUB OF GORE in den Raum.
Ein wenig fühlt man sich erdrückt und auch verirrt zwischen all dem. Wie auch die Großstadt mit mächtigen Gebäuden oder auch ihrer schieren Größe erdrückt, wie sich der Einzelne im Gewimmel der vielen Straßen orientierungslos verirrt, so wirkt „Mélancolie Urbaine“ auf den Hörer, mal verstörend, mal erdrückend, musikalisch irrend zwischen verschiedensten Stilmitteln, ohne aber den roten Faden zu verlieren.
NETRA ist keine Musik für die Masse, soviel ist klar. Vielmehr erscheint mit „Mélancolie Urbaine“ ein Album für musikalische Individualisten zu sein, welche ihre gepeinigte Seele mit diesen melancholischen, lethargischen Klangwelten in Ruhe zurückziehen können, um Wunden zu lecken. Vertonte Depression, und doch so wunderschön.