Mai letzten Jahres war die Welt noch in Ordnung. NEGATIVE waren mit ihrem keyboardlastigem Düster-Pop derart leicht in die Klischeeschublade zu stecken, dass man als Redakteur den kraftlosen Gesang und die einfallslosen Arrangements gar nicht mehr wirklich brauchte, um das Album „Sweet & Deceitful“ in Gegenwart vollstem Gerechtigkeitssinns zu verreißen. Wenn man dann noch Zeit hatte, konnte man sich desweiteren vergnüglich über das Wunschgenre „Goth-Rocknroll“ lustig machen, oder mit HANOI ROCKS‘ Michael Monroe darüber philosophieren, was für einen weiten Weg die Band noch vor sich hätte.
Mit dem Opener „Glory Of The Shame“ folgt dann aber unvermeidlich der Schock, den jeden Redakteur körperlich mehrere Jahre altern lässt. Man bekommt, angesichts der Frage wo die Finnen so plötzlich diese heftigst verzerrten Gitarren herbekommen haben, kaum noch schnell genug die Kinnlade wieder hoch, um mitzufiebern, wie nach einem gottgroovenden Tempowechsel unter dröhnenden Leadgitarren der Song eigentlich erst wirklich loslegt. Und irgendwann reift die Erkenntnis: RocknRoll-Riffs (chromatisch engräumig) + 2 Oktaven tiefer = Goth-Rocknroll! Unter verschwenderisch vielen Mörderlicks geht die Gleichung NEGATIVEs zum ersten Mal in ihrer Bandkarriere auf und hinterlässt den Hörer schweißverklebt und mit Nackenschmerzen vor den Boxen. Der Song zeigt nicht einfach nur Potential: wenn alle Lieder der Band so mörderisch wären, wäre ich binnen Sekunden ihr größter Fan.
Aber wie man sich das denken kann, gibt es auch auf „Anorectic“ immer noch einige Mängel (unnötig zu erwähnen, dass alle anderen Songs auch deutlich hinter „Glory Of The Shame“ zurückbleiben). So mutet es im weiteren Albumvorlauf dem Hörer ständig an, als ob die Komponistenfraktion der Band eigentlich gar nicht genau wissen würde, wie sie mit dem gesteigerten RocknRoll und Glam Rock Anteil (oft plump in einfache Hymnenarrangements gepackt) umgehen sollte. Außerdem zeigt sich leider auch wieder, wie sehr Sänger Jonne Aaron hinter der technischen Musikerfraktion dank flachbrüstiger und kraftloser Stimme zurückbleibt. Zwar zeigt sich in den ruhigen Flüster- und wilden Rocknrollpassagen dass der Junge wirklich Druck machen kann, auf epischen sinfonischen Refrains wirkt er aber immer noch arg fehl am Platz.
Nichtsdestotrotz machen NEGATIVE mit „Anorectic“ einen gewaltigen Schritt nach vorne. Zwar bleiben sie immer noch hinter dem versprochenen musikalischen Anspruch des Promoschreibens zurück, aber die Platte macht tatsächlich auch nach mehreren Durchläufen noch jede Menge Spaß. Freunde poppigem Gothic Rocks können also unbeschwert zugreifen – und der Rest verschenkt die CD einfach an die 15jährige Tochter.
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