Manchmal tut es eben doch gut, sich von einem amtlichen Grind-Album aus dem Nichts durchschütteln zu lassen. Interessant dabei ist, dass unsereins – so muss ich zu meiner Schande gestehen – in den letzten Jahren wenig auf die deutsche Grind-Szene geachtet hat. Daher ist „World’s Disgrace“, das dritte Album der immerhin auch schon 1995 gegründeten Berliner Grinder NECROMORPH mein Einstieg in deren Œuvre und eine Erinnerung daran, teutonische Handwerkskunst eben vielleicht doch nicht kategorisch in die Ecke „routiniert aber leidenschaftslos“ einzusortieren. Es gibt ja immerhin ausreichend Bands, die mir schon begegnet sind und einen Grund zur tieferen Beschäftigung mit der Szene geliefert hätten, beispielsweise VOMIT SPELL oder KADAVERFICKER, auch wenn der Sound der letztgenannten kürzlich eher verunglückt ist. Aber zurück zu den hier gegenständlichen Berlinern.
Bei NECROMORPH gibt es Grindcore der moderneren Art auf die Löffel
Natürlich kochen NECROMORPH wie letztlich auch VOMIT SPELL mit Wasser, sodass hier keine avantgardistisch-abstrakte Kunst für Kellermenschen zu erwarten ist. Was man dagegen erwarten kann, ist Grindcore der modernen Art. Es gibt also trotz kurzer Durchschnittsspielzeit – Grind-typisch wird die Drei-Minuten-Marke kaum überschritten – durchdachte, abwechslungsreiche Tracks zu hören, die den Grindcore-Song als solchen zelebrieren. Nichts gegen gewalttätige Vignetten á la ONE DAY IN FUKUSHIMA, aber die Berliner präsentieren hier schon einen deutlich zugänglicheren Ansatz, was auch immer das im Grindcore heißen mag. Definitiv nicht Klargesang, hier gibt es kräftig und aggressiv auf die Mütze, vor allem in den fiesen Ein-Minuten-Monstern der Marke „Fritz“. Im Grunde bringt es das Pressesheet auf den Punkt: „World’s Disgrace“ ist „non-nonsense Grindcore with Crust and Death-Metal Influences“.
Das kann man so stehen lassen, aber auch noch weiter ausführen. Eine der großen Stärken von „World’s Disgrace“ ist zum Beispiel das sehr abwechslungsreiche Songwriting. Das kehrt zwar immer wieder zu seinem Grind-Ausgangspunkt zurück, namentlich vor allem irgendwo zwischen ROTTEN SOUND, PIG DESTROYER und möglicherweise auch NAPALM DEATH um die „Smear Campaign“-Tage herum (man höre nur den Titeltrack oder „Unterhaltung“). Hinzu kommen noch der allgegenwärtige, sozial-, konsum- und politkritische Punk-Spirit nebst freizügig eingestreuter Death-Metal- und D-Beat-Elemente. Doch die Berliner haben deutlich mehr zu offerieren als nur eine Grind-Blaupause. So demonstriert die Band zum Beispiel oftmals eine Vorliebe für melancholische Melodien beispielsweise in „Just Flesh“ oder gar für diabolische Untertöne wie im Opener „Nichts“ oder gegen Ende von „Fluchtpunkt“.
Dabei ist das abwechslungsreiche Songwriting die Geheimwaffe der Berliner
Da kann es auch mal passieren, das man sich bei „Gesinde“ mal kurz an spätere SLAYER aus der „Christ Illusion“-Ära erinnert fühlt, während der Über-Hit „The Sound When A Dead Bird Hits The Ground“ die Melodeath-Keule mit Göteborg-Flair eindrucksvoll schwingt. Doch wieder ist es der Grind, der letztlich als Kitt fungiert, um alles innerhalb der Trackliste sinnig unter einen Hut zu bringen, und der dafür sorgt, dass sich die Platte letztlich doch elegant am Stück weghören lässt. Hier hilft auch, dass alles souverän in Szene gesetzt ist, von der straffen aber nicht zu spack sitzenden Rhythmik, die Drummer Micha den Songs auf den Leib prügelt, über die Gitarren-Doppelspitze, die vor allem in den angesprochenen, melancholischen Harmonien glänzt hin zum Gesang von Fritz, der die Kulisse herrlich zerkaut und von gutturalem Gebrüll hin zu diesen – in Ermangelung eines besseren Wortes: neurotisch wirkenden Schreien eine ordentliche Palette abdeckt.
Man merkt, dass die Herren keine Neulinge auf dem Gebiet sind und schon seit über 20 Jahren aktiv sind. NECROMORPH klingen abgebrüht und routiniert, zeigen im Songwriting aber ihre wahre Pfiffigkeit, was zu einem wunderbaren Hörfluss führt. Dieses abwechslungsreiche Songwriting tut auch sein übriges, um das Interesse der Hörerschaft langfristig zu binden und die Trackliste durchgängig interessant zu halten. „World’s Disgrace“ klingt dadurch trotz seiner Intensität und Aggressivität so locker aus der Hüfte gezockt, dass sich die Repeat-Taste praktisch wie von selbst betätigt [ja, es gibt tatsächlich noch aufwändig designte, physische Promos, Anm. d. Red.]. Vielleicht sind Fritz‘ höhere Keiflaute und die etwas klobige Phrasierung speziell bei „Schuld“ manchmal ein bisschen nervig, aber das kann man verkraften angesichts eines Albums, das sonst alles mitbringt: Ordentlich Drive, reichlich Pfiff und mit „The Sound When A Dead Bird Hits The Ground“ auch einen beeindruckenden, klimaktischen Showstopper.
Da kann man ruhig mal den Songtitel „Seelenbalsam Grindcore“ konstatierend paraphrasieren.
Wem die Kampfhörspiele mittlerweile zu verkopft sind und wer die Grindfuckers, als das abtut, was sie sind, Stichwort infantiler Mist, und wer Poostew und Mörser schmerzlich vermisst, der greife via Bandcamp zu!