Metallica - Master Of Puppets

Review

Geschichte ist ein Besserwisser. Sie ist fortschreitende Entwicklung und unumstößlich Abgeschlossenes zugleich. Sie ist Zeit selbst und zugleich ihr Vehikel, das sich immer erinnert und nie vergisst. Sie kennt keine Frage nach dem Ja oder Nein, nur Wahrheit. Sie ist die Geißel, die mit belehrender Weisheit Handeln und Fehler seziert, minutiös katalogisiert und uns bestätigt, tadelt oder vernichtet. Sie lässt uns auf unsere größten Erfolge zurückblicken und beschwört unsere dunkelsten Stunden wieder herauf. Geschichte lässt uns Menschen lieben und Menschen hassen, Entscheidungen treffen und wieder verwerfen, Zukunft gestalten und beeinflussen. Sie gebärt Helden und verewigt Legenden. Und Helden leben bekanntlich lange, Legenden jedoch sterben nie. So mögen sie also, aus heutiger Sicht betrachtet, surreal und irgendwie unwirklich erscheinen, wie ein schlechter Scherz oder zumindest ein signifikanter Mangel an objektivem Sachverstand wirken, jene Worte, die ein Kritiker des Rock Hard anno 1986 in dessen 16. Ausgabe für „Orion“ und „The Thing That Should Not Be“ fand: „Schwachstellen“ eines ansonsten paradoxerweise mit voller Punktzahl bewerteten, perfekten Albums seien sie und stünden somit in der „Totalausfall“-Tradition des vom 1984er „Ride The Lightning“ stammenden „Escape“.
Freilich eines vermag Geschichte ihrem Wesen nach nicht zu leisten. Der Blick in die Zukunft bleibt ihr verwehrt, obgleich sie selbige maßgeblich beeinflusst. So müssen die Worte eines jenen Kritikers mit so etwas wie tragischer Ironie gelesen werden, die für „Master Of Puppets“ unwissend in einem ersten zaghaften Versuch jenen Status vorbereiteten, welchen es heute innehat, dessen wirkliche Tragweite sie auf Anhieb aber selbstverständlich unmöglich in seiner Gesamtheit zu erfassen vermochten. Denn alles das, was Geschichte ist, findet sich auch in „Master Of Puppets“ wieder und jene Geschichte ist untrennbar mit einem Namen verbunden, der diesem Album sein Gesicht verlieh und es in den Augen vieler zugleich ungewollt als nicht wiederholbares Meisterstück, als Anfang und Ende und somit Anfang vom Ende einer jungen aufstrebenden Band brandmarkte. Vielleicht erfasste es der österreichische Autor, Kritiker und Publizist Alfred Polgar mit seinen Worten „Ruhm bedeutet vor allem, dass man zum richtigen Zeitpunkt stirbt“ am Besten. Ruhm, Kult, Mythos, Legende, die Begriffe sind in diesem Fall austauschbar. Aber sie alle wurden Synonyme für „Master Of Puppets“, als an jenem schicksalhaften Abend des 26. September 1986 Cliff Burton und Kirk Hammet die Karten entscheiden ließen, wer in welcher Koje des Tourbusses schlafen sollte. Pik Ass. Burton verlor. Und was folgte, ist Geschichte. Sein Tod, der ihn in der Folge zu einer Art unfreiwilligen, musikalischen Märtyrer stilisierte, ist, so taktlos es auch klingen mag, für die heutige Bedeutung und Klasse dieses Albums und METALLICA´s konstitutiv. Müßig darüber zu spekulieren, welcher Rang „Master Of Puppets“ heute zuteil wäre, wäre Cliff Burton immer noch aktiver Teil von METALLICA. Vielleicht nicht der eines unantastbaren Mythos, wenngleich dem allein die musikalische Leistung sehr nahe kommt. Kaum einer, der dieses Album nicht kennt, kaum eine Band, die sich davon nicht beeinflusst gibt. METALLICA waren 1986 ihrer Zeit um Längen voraus. Was bereits mit „Ride The Lightning“ angedeutet wurde, setzte das dritte Album der Thrashpioniere aus der Bay Area nahtlos fort und zwar in einem Ausmaß, dass wohl keiner erwartet hätte. „Master Of Puppets“ hob die Metalwelt leichtfüßig aus den Angeln und ließ sie mit weit offen stehenden Mündern hinter sich. Es offenbarte ein bis ins Detail perfekt durchdachtes Filigran und wirkte zeitgleich so losgelöst und mühelos, dass es bisweilen schmerzte. Das Songwriterduo Hetfield/Ulrich verballerte geradezu verschwenderisch massenweise Ideen, als gäbe es irgendwo in Kalifornien einen immensen Fundus, den nur sie kannten und den es möglichst schnell möglichst restlos auszuweiden galt. Zusammen mit Burton´s mehr als in den Jahren zuvor spürbaren klassischen Einfluss, kleideten sie die 55 Minuten in ein Gewand aus luftig anliegenden E-Musik-Strukturen und Arrangements, dass immer noch genug Sicht auf markerschütternden Metal zuließ. Angefangen vom dissonanten, den zerstörerischen Dingen, die da kommen sollten, harrenden Intro von „Battery“ bis zum abrupten Ende der ihrem Namen alle Ehre machenden Gewaltorgie „Damage Inc.“ versammelte sich ein riesiger Pool an unterschiedlichsten Stimmungen, dessen Speerspitzen bis in die heutige Zeit herausragen sollten: das gnadenlose Jahrhundertriff des Titeltracks und dessen überwältigend emotionale Cleanbridge, die erdrückende Unheimlichkeit von „The Thing That Should Not Be“, die vom Wahnsinn geschüttelten Melodien und klaustrophobischen Ausbrüche von „Welcome Home (Sanitarium)“, die galoppierenden Kriegstrommeln von „Disposable Heroes“, das sich langsam zu Stakkato-Attacken aufschaukelnde „Leper Messiah“. Und schließlich „Orion“, die prognostizierte Schwachstelle aus schrägen Riffs, surrenden Basslinien und einem die Zeit förmlich hinauszögernden, beinahe stillstehenden Mittelteil. Cliff Burton schrieb sich hier sein eigenes Requiem, das „Master Of Puppets“ in seiner Gesamtheit zu einem vorgezogenen Nachruf auf seine Person selbst avancieren lies und noch bis heute nachhallt. Seine Geschichte macht dieses letzte Album in klassischer Besetzung nicht nur zu METALLICA´s Album, sondern zu seinem Album. Ein persönlicher Triumphzug, der seine Geschichte dort enden lässt, wo sie anfängt und sie andauern lässt, wo sie endet. „Master Of Puppets“ ist nicht nur ein Stück Musikgeschichte, sondern vor allem eines: gelebte und erlebte Geschichte. Mit jedem Umlauf.

30.04.2006
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