Mayhem live in Leipzig - Wie ich den Black Metal nach Ostdeutschland brachte
Review
Buchbesprechung
Triggerwarnung: Menschen mit “Inner Circle”-Fantasien könnten einige Illusionen verlieren.
Vieles ist in der tragikomischen Karriere von MAYHEM anders gelaufen als geplant. Für kaum eine andere Band – außer NIRVANA – führten Tragödien in diesem Maße zu Mythos und Publicity. “Live In Leipzig”, das wohl erste offizielle Live-Album im Black Metal, ist eigentlich ein ebensolches “Missgeschick”. Allein die Existenz der Aufnahme ist mehr Zufall als alles andere. Das dürfte allerdings den Wenigsten bekannt sein. Gerade im Black Metal ist die Kluft zwischen Szene- und Medienwahrnehmung und direktem persönlichen Kontakt mit den Musiker*innen ohnehin oft immens. MAYHEM haben insbesondere zu Beginn ihrer Karriere einiges investiert, um sich in Sachen Brutalität und Provokation von den immer generischer werdenden Death-Metal-Bands der späten Achtziger abzugrenzen – jahrelang haben Medien und Fans diese Image-Pillen gefällig geschluckt. Nun hat der Mann, der für MAYHEM in der auslaufenden DDR drei Konzerte organisierte und die Band während ihres Aufenthaltes betreute, eine Chronik seiner Erinnerungen geschrieben. Vorhang auf für Abo Alsleben.
Ein bisschen Entzauberung, ein bisschen Nostalgie
Man kann “Live In Leipzig” nicht verstehen, wenn man es nicht im Kontext der damaligen Metalszene betrachtet. Überdies tragen zur geschichtlichen Relevanz auch die politischen und sozialen Umstände bei, unter denen die MAYHEM-Tour stattgefunden hat. Der – heute in medioker recherchierten TV-Dokus gern als Hotspot für ‘Linken Terror’ diffamierte – Leipziger Süden war bereits während der letzten DDR-Jahre ein Sammelbecken für Alternative, Kunst-Schaffende und Sonderlinge – unter solchen gedeihen DIY-Initiativen und basisnahe Projekte seit jeher am besten. Somit ist es eine glückliche Fügung, dass mit Abo Alsleben einer davon ein begeisterter Tapetrader und Fanzine-Schreiber war, der auch den Kontakt zu Øystein Aarseth aka Euronymous herstellte.
Der Überlebenskünstler Abo erläutert daher zu Beginn richtigerweise, wie es als Metalfan in der DDR überhaupt war. Denn die materielle Ausgangslage war eine fundamental andere. Die geradezu inflationäre Verfügbarkeit von Tonträgern, Accessoires und Shirts des Westens beziehungsweise der Moderne gab es vor Ort nicht – das meiste musste selbst erschaffen werden. Allein diese enthusiastisch verklärten Schilderungen sind von großem Wert. Zudem wäre das einflussreichste Black-Metal-Live-Album ohne diese wilden Voraussetzungen womöglich nicht erschienen. Besonders interessant sind Abos Erinnerungen an die Zeit, als MAYHEM endlich eingetroffen waren und er für die Dauer ihrer DDR-Konzerte 24/7 Zeit mit den schrägen Vögeln verbracht hat: Necrobutcher, der sich so große Sorgen um seine Frau und Tochter macht, dass er kurz vor dem Gig noch dringend eine Telefonzelle sucht, um Kontakt aufzunehmen – rührend; dass eigentlich alle richtig Schiss hatten, als die damals üblichen Neonazi-Banden durch die Straße zogen, in der MAYHEM übernachteten – verständlich und symptomatisch für alle, die zu jener Zeit irgendwie nach “Punk” oder “Zecke” aussahen; Euronymous, der sich wie ein Kind im Süßwarenladen freut, als er und Abo backstage eine alte, riesengroße DDR-Flagge mit Samt und Kordeln entdecken, die er behalten darf – eigentlich fast schon sympathisch.
Quellensammlung mit historischem Wert
Alsleben schildert lebendig und präzise und kann sich an viele Details erinnern. Es ist so, als höre man einem Punkrock-Opa zu, der seinen Schützlingen Geschichten von früher erzählt. Dabei macht er es nicht zu kompliziert, sondern plaudert, wie ein Connewitzer Junge von der Straße eben plaudert. Sympathisch ist außerdem, dass er sich nicht scheut, das spätere Ausschlachten von Deads Suizid seitens Euronymous klar zu verurteilen. Ebenso geht er im Epilog auf Vikernes‘ Mord an Euronymous sowie den im gleichen Jahr von Neonazis in Hoyerswerda ermordeten Metaller (und Freund) Mike Zerna, dem das Buch gewidmet ist, ein. Die Frage, wie man selbst als coolster Black-Metal-Misanthrop auf dem Schulhof mit braunen Ideologien flirten kann, wenn man doch unter den Ersten auf deren Deportationslisten stünde, sei an dieser Stelle wiederholt.
Für alle MAYHEM-Fans und Black-Metal-Historiker besteht der eigentliche Wert des Buches vor allem in zahlreichen bisher unveröffentlichten Farbfotos sowie Faksimiles sämtlicher Briefe, die Euronymous an Abo schickte. Wer keine Angst davor hat, Mythen zu zerstören, kann sich der Band und vor allem Aarseth über ihr Image hinaus als Persönlichkeiten nähern.
Abo Alslebens “Mayhem live in Leipzig” – rundum unterhaltsam und gelungen
So bleibt unterm Strich ein ausgesprochen persönliches und kurzweiliges Zeitzeugnis. Allen Fans, die bereits süchtig alte Fanzine-Artikel des “Slayer”-Mags oder Dokus wie “Pure Fucking Mayhem” und “Until The Light Takes Us” inhaliert haben, wird Alslebens Buch neue Zugänge bieten. Zudem wirft es mal wieder die dringend notwendige Frage auf, wie ernst von Bands selbst kreierte Images und Narrative zu nehmen sind.
Persönliche Anmerkung des Autors: Ich lebe selbst seit beinahe 10 Jahren in Leipzig und bin in einer anderen größeren Stadt Sachsens aufgewachsen, kurz nachdem die DDR beerdigt wurde. Die verfallenen Ruinen, die geringe Sichtbarkeit von Metalheads in den Straßen und die Präsenz von Nazi-Schlägern – das alles prägte meine Kindheit und Jugend bis in die frühen Nuller-Jahre hinein so ähnlich. Da wurde man als Vierzehnjähriger tagsüber in der Innenstadt wegen langer Haare und eines CHILDREN-OF-BODOM-Shirts für eine “Zecke” befunden und festgehalten. Hat auch niemanden gejuckt. Das waren alkoholisierte Faschos ohne Sinn für Diskussion und Diplomatie. Die Empfindungen von Abo und die Unruhe der MAYHEM-Jungs vor Ort kann ich gut bestätigen, auch wenn ich nie wirklich körperlichen oder materiellen Schaden nahm. Einigen Freund*innen, die nicht zufällig blass und blond waren, ging das durchaus anders. Mit der traurigen Geschichte vom Mord an Mike Zerna bin ich beinahe aufgewachsen. Der Leipziger Süden mit seinen unzähligen Clubs, Kneipen, Plattenläden und Konzert-Locations ist mir Zuhause und Zuflucht geworden – trotz Medienberichten, die schier bürgerkriegsähnliche Zustände suggerieren wollen. Es kommt immer noch vor, dass Nazi-Gangs alternative Clubs attackieren; im ländlichen Raum Sachsens weit öfter als in der recht offenen und Metal-freundlichen Metropole Leipzig.
Ein großer Dank geht an Abo Alsleben für das konkrete Benennen und Stellung beziehen. Ohne Macher wie ihn, die den Leipziger Süden nach innen und außen prägen, könnte die nachfolgende Generation die überdurchschnittliche Flut an tollen Underground-Konzerten in dieser Gegend heute nicht mehr erleben. Danke außerdem an Florian Illerhaus vom bookra Verlag für das zur Verfügung gestellte Rezensionsexemplar und die Initiative.
Mayhem live in Leipzig - Wie ich den Black Metal nach Ostdeutschland brachte
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Wertung | — |
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Stile | Black Metal, Sonstige |
Anzahl Songs | 0 |
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Release | 06.04.2020 |
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