Wo soll man mit einer Kritik anfangen über ein Album, bei dem man selbst nach mehrfachem Hören nicht mehr sicher ist, wo hinten und vorne ist? Etwa mit der Frage, welche Glühbirnen sich die Bandmitglieder in die Köpfe gesteckt haben, um jeden hintersten Winkel ihrer geistigen Windungen auszuleuchten? Oder soll man sich in die Ecke stellen und bitterlich weinen über eine derart ergreifende Musik? Welchen Sinn hat die Rationalität noch bei diesem Höllenritt zwischen morbid-überdrehtem Chaos, 50er-Blues, Sonnenschein-Rock, depressiver Countrymusik und Texten zwischen scheinbarer Sinnfreiheit und bitterböser Wahrheit? Extrafies: der Ohrwurmcharakter jedes einzelnen Songs!
Gut, also von Anfang an. Ein seltsames, krankes Cover im Stile der 50er Jahre. Das Intro: klingt wie eines für Indie-Rock, nur die Stimme schockt irgendwie: so rauh singt Mann normalerweise nicht zu solcher Musik. Weiter im Text, der Titeltrack läutet den Wahnsinn endgültig ein: wer sich traut, “Humphrey Bogart“ auf “Yoghurt“ zu reimen, hat echt was an der Klatsche! Recht viel anders geht’s nicht weiter, der schmale Grat zwischen Hirnfick und Logik wird konsequent abgeschritten, auch wenn er an manchen Stellen nur wenige Millimeter breit ist. Jeder Song pendelt wieder in eine völlig neue Richtung, von Country-Rock über SYSTEM OF A DOWN, Zirkusmusik nebst YES-Keyboardsolo, Reggae (genialst: “Dance With The Cookieman“, eine Atmosphäre wie bei „Alice im Wunderland“ oder den „Shrek“-Filmen!), 30er-Jahre Boogie über eingängigere Prog-Rock-Schlager hin zu einem depressiven Country-Song ganz zum Schluss. Und wenn zwischendrin am Anfang von “Simone“ ein Tuba-Solo (!) erklingt, grüßt die Cheshire Cat mit einem Lächeln, dass den Kopf in zwei Hälften teilt.
Die Ausführung ist dabei ausserordentlich gelungen, Kein Moment in den Songs oder den kurzen Zwischenspielen ist zuviel, jeder Song ist etwas anders aufgebaut. Bittersüss auch die Auftritte der Gastmusiker: weiblicher Gesang, Cello und Percussions sind keine überflüssigen Dreingaben, sondern sinnvolle Erweiterungen des Pools an Stilmitteln der genialen Norweger. Jeder einzelne Song kann als Anspieltipp dienen, es gibt weder Ausfälle noch Mittelmaß.
Schwächen kann ich, wenn überhaupt, nur eine ausmachen: In den tieferen Lagen fehlt der Stimme von Jon Ivar Kollbotn ein wenig der Gestaltungsspielraum, aber überall sonst zeigt er souverän, wie emotional, kaputt, vielseitig und männlich der Gesang in der experimentellen Rockmusik sein kann.
Ein weiterer netter Effekt: verändert man die Songreihenfolge so, wie sie im Booklet abgedruckt sind, entsteht ein völlig neuer Spannungsbogen und man entdeckt noch einmal zusätzliche Details oder findet Sinn in Passagen, die vorher noch nicht durchsichtig erschienen!
“Songs From A Solitary Home“ stellen für mich das beste, kompletteste und aussergewöhnlichste Rock-Album des Jahres dar, vielleicht sogar mehr als das. Dass es trotz aller Stilwechsel wie aus einem Guss klingt, setzt dem I-Tüpfelchen nochmal die Krone aufs Sahnehäubchen! Wer da nicht reinhört, ist selber schuld!
Hab das Album für musikreviews.de auch mit der Höchstpunktzahl bedacht und freue mich darüber, dass ich mit meiner Meinung nicht alleine dastehe. Jetzt warte ich echt nur noch auf eine Visualisierung unter der Regie von Tim Burton… 🙂