Lingua Ignota - Sinner Get Ready

Review

Leuten, die das aktuelle Musikgeschehen verfolgen, dürfte der Name Kristin Hayter ein Begriff sein. Unter dem Banner LINGUA IGNOTA veröffentlichte die in Kalifornien geborene, klassisch ausgebildete Multiinstrumentalistin bereits zwei vielbeachtete Alben, „All Bitches Die“ sowie „Caligula“. Besonders letzteres schlug nicht nur im übertragenen, sondern auch im Wortsinne ein. Immerhin zeichnet sich dieses Album durch einige brachiale Ausbrüche aus, die dank des gekonnten Stimmungsaufbaus zwar nicht gerade von ungefähr kommen, aufgrund des dramaturgischen Songwritings und nicht zuletzt Hayters expressiver, ja: explosiver Darbietung  jedoch von wahrhaftig markerschütternder Natur sind.

Diese sind zwar nicht notwendigerweise von metallischer (geschweige denn rockiger) Natur, doch in ihren krankhafteren Momenten (z. B. „Do You Doubt Me Traitor“, „Butcher Of The World“) stinkt sie mit ihrem geradezu bestialischen Gekreische locker gegen diverse Black-Metal-Stimmen an, ohne dass das Backdrop überhaupt entsprechend genrekonform läuft. LINGUA IGNOTA nämlich zieht ein (neo-)klassisches Backdrop für ihre Klangkunst vor, das zu Zeiten von „Caligula“ etwa durch Ambient bzw. auch mal Industrial sekundiert worden ist. „Sinner Get Ready“, das neue Album, fährt die Lärmkomponente dagegen merklich zurück und ersetzt diese mit folkigeren Elementen.

Schwere Materie – LINGUA IGNOTA macht es ihren Hörern nicht leicht

Ein wiederkehrendes Motiv in der Musik von Hayter ist dabei die Religiosität, die dem Sound gelegentlich eine sakrale Note verleiht. Das springt einem in „I Who Bend The Tall Grass“ förmlich ins Gesicht, wird der Song schließlich durch eine füllige Kirchenorgel dominiert. Religiosität heißt hier aber selbstredend keine vertonte Missionsarbeit – allerdings auch keine juvenile Rebellion gegen diverse Diözesen. Das Verhältnis von Hayter zur Kirche stellt sich hier als durchaus ambivalent und komplex heraus. Auf der einen Seite werden ziemlich einschlägige Bildnisse verwendet wie z. B. in „Many Hands“, die Assoziationen an Vergewaltigung bzw. sexuellen Missbrauch erwecken:

And rough, rough fingers for every hole you have
(Sinner, you better get ready, hallelujah)
The Lord spat and held me by my neck
„I would die for you, I would die for you“ he wept

Auf der anderen Seite scheint sie im abschließenden „The Solitary Brethren Of Ephrata“ fast so etwas wie eine Form von Erlösung zu besingen. Und an genau diesem Schlusspunkt strahlt „Sinner Get Ready“ eine irgendwie uncharakteristische Wärme aus, die zwar im Verlauf des Albums immer wieder spontan aufflammt, hier aber ihren Zenit erreicht. Besonders dadurch, dass Hayters mehrfach übereinander gelayerter Gesang fast schon wie ein routiniertes, mehrstimmig arrangiertes Chorensemble anmutet, fährt der Song sanft wie Seide ins Gehör und über die Haut. Begleitet von einem Klavier, das sich perlend darunter legt, ist „The Solitary Brethren Of Ephrata“ ein bittersüßer Moment von purer, musikalischer Schönheit.

LINGUA IGNOTA trifft mitten in die Magengrube

Doch jenseits dieses Schlusspunktes bietet „Sinner Get Ready“ schwer verdauliche Kunst, mit der man sich befassen muss. Hier tun sich seelische Abgründe auf. Geografischer Ankerpunkt der Platte ist der Staat Pennsylvania, in dem Hayter zur Zeit der Aufnahmen gelebt hat. Dementsprechend ist beispielsweise „Pennsylvania Furnace“ inhaltlich an eine Legende von einem Eisenmeister angelehnt, der von seinen Hunden in die Hölle gezerrt wird, nachdem er diese in seinen Ofen geschmissen hat. Der Titel des Tracks ist vermutlich zweideutig zu verstehen, da es ebenfalls eine Gemeinde in Pennsylvania gleichen Namens gibt, ebenso wie viele der Texte aufgrund der wiederkehrenden, von Religion geprägten Bild- bzw. Symbolsprache reichlich Spielraum für Interpretationen lassen.

Musikalisch geht es auf „Sinner Get Ready“ ähnlich ambivalent zu. Auf der einen Seite findet Hayters Hang zu (neo-)klassischen Kompositionen regelmäßig ihren Weg in das Songwriting hinein und dominiert beispielsweise „Pennsylvania Furnace“ oder „Perpetual Flame Of Centralia“, daneben erklingt aber auch regelmäßig ein Banjo sowie diverse Folk-Instrumente, die laut Presseninfo vor allem bei den Appalachee beheimatet sind. Hayters Hang zur Repetition kann dabei manchmal ein bisschen frustrieren wie in „I Who Bend The Tall Grass“, funktioniert an anderer Stelle aber dank dynamischerer Umsetzung deutlich besser.

Sünder, bist Du bereit?

Am erdrückendsten gerät „Sinner Get Ready“ dabei, wenn LINGUA IGNOTA eine Landschaft beschreibt aus der das Leben förmlich weggefegt zu sein scheint, was besonders eindrücklich in „Repent Now Confess Now“ herüberkommt. Doch auch die einsam wirkende Klavierbegleitung z. B. in „Perpetual Flame Of Centralia“ trägt zu diesem Eindruck bei, während es an anderer Stelle auch mal etwas lebhafter werden kann. Einerseits äußert sich das in den Noise-Attacken im Opener „The Order Of Spiritual Virgins“, andererseits gipfelt dieser Faktor der Musik förmlich in „Man Is Like A Spring Flower“, das mit seiner geschäftigen Instrumentierung auf-, allerdings glücklicherweise nicht negativ aus dem Rahmen fällt.

Das Gesamtpaket „Sinner Get Ready“ ist also eine Herausforderung. Sei es der expressive Gesang, der dem neuen musikalischen Backdrop gemäß etwas weniger Explosivität innehat, dennoch nichts von seiner (Melo-)Dramatik eingebüßt hat, sei es das Songwriting, das selten um eine spezifische Hook herum geschrieben ist und ähnlich wie bei Peter Hammill mehr auf vertonte Lyrik aus ist, sei es die Instrumentierung, welche die Geduld der Hörerschaft einfordert. An diesem Album hat man definitiv lange zu knabbern, gerade wenn man sich mit den Texten und den Hintergründen befasst. LINGUA IGNOTA wird dem Hype also durchaus gerecht, auch wenn „Sinner Get Ready“ möglicherweise dann doch nicht ganz so perfekt sein mag. Stark ist es aber allemal.

24.08.2021

Redakteur für Prog, Death, Grind, Industrial, Rock und albernen Blödsinn.

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