Les Chants Du Hasard - Livre Quart

Review

Es erheben sich Klänge, irgendwo zwischen klassischer Oper und expressionistischem Kino der Zwanziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts – wilde, inbrünstige und bedrohliche Töne wirbeln im Äther umher, fast als wollte ein wild gewordenes Orchester nebst wie besessen trällernder Geister das jüngste Gericht einläuten, während ein fauchender Dämon immer wieder auf- und wieder abtaucht, um das finstre Geschehen zu dirigieren. Fürwahr: LES CHANTS DU HASARD geht mit „Livre Quart“ titeltreu in die vierte Runde, nachdem der mysteriöse Franzose Hazard zuletzt mit „Malivore“ ein vergleichsweise konventionelles Black Metal-Album veröffentlichte – so konventionell, wie avantgardistischer Symphonic Black Metal eben sein kann.

Der fauchende Dämon und sein wild gewordenes Orchester

Doch wie schon betreffs des Vorgängers „Livre Troisième“ angesprochen gilt das Streben von Hazard mit seinem ausschließlich mit Orchester begleiteten Hauptprojekt der Erzielung finsterer, Black Metal-artiger Stimmung, ohne abgesehen von Hazards Stimme auch nur einen einzigen, metallischen Ton abzugeben. Die Mittel, um dies zu erreichen, sind ausgesprochen expressiver Natur mit hohem Fokus auf großes Drama, allerdings ohne klassische (geschweige denn moderne) Arien einzubauen. In dieser Hinsicht verschreiben sich LES CHANTS DU HASARD dann doch weniger der Theatralik im konventionellen Sinne und gehen mehr auf pure, cineastische Intuition, um innerhalb von vierzig Minuten einen möglichst großen Eindruck zu hinterlassen.

Und das ist mit „Livre Quart“ wieder einmal eindrucksvoll gelungen. Die Stimmung zielt volle Kanne in die Magengrube, um durch wahlweise pulsierende, kontrapunktische oder gar nah am Chaotischen rangierende Motive eine unheilvolle Stimmung aufzubauen, weitaus weniger subtil wie beispielsweise ART ZOYD das mal mit ihren Stummfilm-Soundtracks der Marke „Nosferatu“ gemacht haben, sondern deutlich explosiver. Selbstredend lässt Hazard seine Hörerschaft dennoch gerne im eigenen Saft kochen wie in „Chant VI – Procession Du Sabbat“, was für die Dynamik des Gesamtwerkes absolut essentiell ist und die bombastischeren Momente verstärkt.

Cineastisches Flair und ein höheres Maß an Unmittelbarkeit helfen „Livre Quart“ ungemein

Das verleiht „Livre Quart“ ein höheres Maß an Unmittelbarkeit. Hinsichtlich der Orchestrierung scheint Hazard diese heuer selbst aus der digitalen Konserve zu arrangiert haben. Zumindest findet sich in der Presseinfo keinerlei Verweis auf die Mitwirkung eines Orchesters. Dass alles dennoch so warm und raumgreifend, vor allem aber professionell klingt, zeigt, wie viel Arbeit in die Arrangements hinein gewandert zu sein scheint und wie gut die Produktion von Déhà (u. a. CULT OR ERINYES, SLOW, BRÆ u. v. m.) die einzelnen Instrumente umeinander herum schichtet, ohne dass das Gebilde in einem Klanggulasch ausufert.

Trotz der angesprochenen Unmittelbarkeit der Stücke ist die Atmosphäre der (nicht so) heimliche Star der ganzen Angelegenheit. Das reicht von klassisch gotischer Stimmung mit herrlich altbackenem Horror-Flair hin zu wilden, spiralen- oder kaskadenartigen Motiven, die mehr in Richtung einschlägiger Lovecraft-Huldigung und dem damit einhergehenden Abstieg in den Wahnsinn gehen. Vor allem gelingt es LES CHANTS DU HASARD, diese beiden Aspekte immer wieder ineinander übergehen zu lassen, besonders schön in „Chant II – La Chauve-Souris“ zu hören. Und wer den Fromsoft-Klassiker Bloodborne gespielt hat, wird sich hier sofort heimisch fühlen.

Damit bauen LES CHANTS DU HASARD ihre Stärken gekonnt aus

Was die Gesangsverteilung angeht, so scheint „Livre Quart“ in leicht einreduziertem Personal aufgenommen worden zu sein. Oder zumindest sind nur drei weitere Namen neben Hazard mit Gesang kreditiert. Neben Göran Setitus, der auf „Chant VII – Les Ombres Vagabondes“ zu hören ist, treten die schlicht als „Laura“ geführte Sopranistin sowie der schlicht als „Christian“ geführte Tenor in Erscheinung, leisten aber formidable Arbeit und erfüllen die Musik mit ihrer eigentümlichen, geisterhaften Aura, die komplett unter die Haut geht. In „Chant III – Le Bruit Du Monde“ nehmen sie einen Großteil des Rampenlichts für sich ein, während ihre Stimmen im Hintergrund von „Chant VI – Sous La Mitre De Fer“ für kalte Nackenschauer sorgen.

„Livre Quart“ beerbt seinen auch schon ziemlich großartigen Vorgänger also mehr als würdig, übertrifft ihn möglicherweise durch sein höheres Maß an Direktheit an einigen Stellen. Da ist man mittlerweile weit genug, um sich vorzustellen, wie das wohl in einem Konzertsetting klingen mag. Es lässt sich leider nicht wirklich eruieren, ob LES CHANTS DU HASARD diese Vision der Darstellung von Black Metal-Finsternis durch klassische Musik jemals live vortragen wird, zumal sich unsereins den Soundcheck als wahren Albtraum vorstellt – wer HAGGARD jemals live gesehen hat, weiß was ich meine. „Livre Quart“ ist jedoch ein hervorragendes Album per se und sollte möglichst mit guten Lautsprechern oder Kopfhörern am Stück genossen werden!

14.06.2024

Redakteur für Prog, Death, Grind, Industrial, Rock und albernen Blödsinn.

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