Leprous - The Congregation

Review

Ein deformierter Kälberfötus in dunklen Graustufen, ein Titel, der für religiöse Versammlungen steht – ein Sinnbild für das blinde Mitlaufen in einem Massenstrom, der weder nach rechts oder links blickt, geschweige denn, sich der Konsequenzen dessen bewusst ist.
Der visuelle Berührungspunkt, für die derzeit zum Quartett geschrumpfte Formation ist verstörend und beängstigend, erzeugt jedoch genau das, was LEPROUS erreichen wollen: Sie wollen Fragen aufwerfen.

Musikalisch setzen die Norweger ihre auf „Coal“ begonnene Reise fort. Folglich ist das neue Material auch am ehesten mit dem Vorgänger vergleichbar. Es fällt insgesamt jedoch melodischer, technischer und vor allem kompakter aus. Eine weitere Verbindung ist das repetitive Songwriting und die durchgehend melancholische und dunkelbunte Grundstimmung.

Diese führt zusammen mit der warmen Tenor-Stimme Einar Solbergs durch das gesamte Album. Solberg hat „The Congregation“ auch nahezu im Alleingang komponiert. Als Inspirationsquelle dienten ihm dabei vor allem MASSIVE ATTACK und RADIOHEAD. Zwei Bands, die es schaffen, mit minimalistischen, elementaren Mitteln unglaublich spannungsgeladene und ergreifende Klänge zu formen – ein Kompliment, welche LEPROUS spätestens jetzt ebenfalls zusteht.

Das bunte, abrupte Umherspringen zwischen diversen Tempi, Stimmungen oder Stilen wie noch auf „Bilateral“ oder „Tall Poppy Syndrome“ ist passé. Dafür sind die neuen Songs unglaublich dicht komponiert und mancher Leerlauf, der auf dem Vorgänger noch für Einbußen sorgte, gehört der Vergangenheit an.

Die Norweger haben ihren Stil an den richtigen Stellen modifiziert und überflüssigen Ballast über Bord geworfen. Zwar verbleiben ein paar Längen, die sind jedoch eher als die Macke zu sehen, welche dem Album zum Exzellenzstatus verhilft und verhindert, dass es zu glatt und perfekt wirkt. Auch in der sehr plastischen Produktion sind ausreichend Ecken und Kanten geblieben, so dass der Klang an keiner Stelle zu steril wirkt.

Zum Einstieg demonstrieren LEPROUS mit „The Price“ direkt, wozu sie imstande sind. Bereits der herrlich arrangierte Widerstreit, der zwischen Gitarre und Schlagzeug ausgestragen wird, nimmt mich direkt gefangen. Ein Zustand der sich bis zum Ende nicht ändern soll. Auch der Drang nach mehr Melodie und mehr Dramatik im Vergleich zu früheren Veröffentlichungen der Band wird deutlich und in „Third Law“ einmal mehr unterstrichen. Insbesondere der Refrain ist eine Klasse für sich, wenn die spannungsgeladene, rhythmisch vertrackte Strophe in einem melodischen Refrain voller Harmonie mündet und ich für diesen Zeitraum den entfesselten Fluten zuhören kann, die sich über mich ergießen. Die Strophe, die gesanglich irgendwo zwischen MUSE und RADIOHEAD angelegt ist, zeigt die Stimme in einem Moment zerbrechlich, im anderen zu einem Massiv aufbäumend. Die Nuancierung und der Facettenreichtum machen Solberg zum prädestinierten Erzähler von „The Congregation“.

„Rewind“ macht sehr deutlich, wie viel Raffinesse und Feingefühl im Songwriting stecken. Ein steter Spannungsaufbau, der einerseits durch sich wiederholende Elemente, andererseits durch hinzukommende Instrumente oder Variationen entsteht. Das dynamische und durch den erhöhten Einsatz der Toms auch sehr markante Drumming Baard Kolstads trägt seinerseits einen beachtlichen Teil zur Sogwirkung bei – sowohl im Song, als auch für „The Congregation“ in Gänze.

„The Flood“ bringt die von „Coal“ bekannten „Oh-“ und „Ah-Chöre“ zurück ins Spiel – diesmal jedoch als gut gesetztes Stilmittel und weniger als musikalischen Expander. Gleichzeitig brodelt der Bass als niederfrequentes Fundament wie ein Vulkan kurz vor der Eruption. Der Song hüllt mich als Hörer gleichermaßen in einen Schleier der Resignation und der Hoffnung – spätestens wenn die Band beginnt, einen Spannungsbogen aufzubauen, dieser dann schlagartig endet und in sowohl fragilen wie auch elegischen Vokalrepetitionen gipfelt, ehe im Refrain wieder neue Kraft geschöpft wird.

Auch „Slave“ brilliert mit seiner atmosphärischen Dichte. Düstere Synthesizer, die einem Horrorfilm entsprungen sein könnten, in Verbindung mit minimalistischem Drumming und der abermals ausgezeichneten Gesangsleistung Solbergs führen in das Labyrinth ein und lassen mich orientierungslos zurück. Als die bedrohlichen, tiefschürfenden Schreie einsetzen, stürzt der Irrgarten über mir zusammen. Ich kauere mich zusammen, suche Deckung – dann wieder vertraute Klänge. Im Licht des Refrains schaue ich atemlos auf die Trümmer, die hinter mir liegen.

Abschließend steht mit „Lower“ ein ruhigerer Ausklang, der es ermöglicht, das zuvor Gehörte noch einmal Revue passieren zu lassen und zu verarbeiten, ehe der Song selbst wieder meine volle Aufmerksamkeit an sich reißt. Zu Beginn erinnert der Track sogar ein wenig an GAZPACHO.

Das Beeindruckende ist die Fähigkeit der Band, jedem Song ein anderes Klang-Timbre angedeihen zu lassen und dennoch über Albumlänge ein zusammenhängendes Gesamtbild zu zeichnen. Zusätzlich zur formidablen Gesangsdarbietung Einar Solbergs, der der wahre Hauptdarsteller des Albums ist. Sehr variabel, meist in höheren Stimmlagen und mit warmem Klang, teilt er seine Gedanken mit uns.

Das Album jagt mich, verschlingt mich, begräbt mich in seinem Innersten und würgt mich erst wieder aus, wenn der Schlussakkord für einige Momente verklungen ist. Es ist eine unglaublich dicht inszenierte Irrfahrt in der Gedankenwelt von LEPROUS – und die ist düster, facettenreich, berechnend, überraschend, kurzum: virtuos und fähig, ein Album wie „The Congregation“ zu erschaffen. Ein modernes, intensives Gesamtkunstwerk.

18.05.2015
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