Leprous - Bilateral

Review

Ich muss wirklich aufpassen, dass ich „Bilateral“, das brandneue Album der Norweger LEPROUS, nicht „Song By Song“ rezensiere. Die Verlockung ist groß, denn mir fällt aus jedem der zehn Songs ohne Weiteres ein Beispiel dafür ein, warum „Bilateral“ ein so grandioses Album ist, warum „Bilateral“ – ich lege mich fest! – zu meinen heißen Favoriten auf den Titel „Album des Jahres 2011“ gehört.

LEPROUS kommen nicht nur aus Norwegen, sondern genauer aus dem kleinen Städtchen Notodden. Notodden… Notodden… da war doch was!? Genau, auch EMPEROR haben ihre Wurzeln hier. Damit sind wir auch schon auf der richtigen Spur, denn EMPEROR-Chef Vegard „IHSAHN“ Tveitan ist für LEPROUS kein Unbekannter: So sind die fünf Leprösen nicht nur als Live-Musiker für IHSAHNs Alleingänge tätig (worüber IHSAHN sich in unserem letzten Gespräch äußert positiv äußerte), sondern haben „Bilateral“ auch in dessen Notoddener Ivory Shoulder Studio sowie im nah gelegenen Juke Joint Studio aufgenommen. Dieses Making Of-Video zeigt IHSAHNs gewaltigen Einfluss auf „Bilateral“…

Bei Genuss des eröffnenden Titeltracks fällt mir direkt eine weitere Verbindung auf: Keyboarder und Sänger Einar Solberg stand bereits 2006 mit EMPEROR in Wacken auf der Bühne. Was Solberg bei „With Strength I Burn“ – trotz Zweitstimme! – scheinbar spielend gelang, klappt auch auf „Bilateral“: Gänsehaut. Sein Gesang durchstreift alle Emotionen, von balladesk flehend über triumphal-episch bis hin zu richtig fies – doch auch technisch bewegt sich Solberg in Kopf-, Bruststimme und gepresstem Gesang auf allerhöchstem Niveau.

Das soll jetzt nicht heißen, dass das musikalische Fundament irgendwie in den Hintergrund tritt! Dieses besteht – Achtung! – nicht aus Black Metal, sondern ist eher in Gefilden unterwegs, die IHSAHN auf seinen Solo-Alben erforscht: „Bilateral“ ist meisterhafter, düsterer Prog Metal, der im Wesentlichen auf achtsaitigen Gitarren fußt, aber auch Solbergs Synthesizer als formgebendes Instrument nutzt. Das Schöne ist: LEPROUS klingen keine Sekunde lang wie eine Feld-, Wald- und Wiesen-Progband – es gibt kein überbordendes Gefrickel (dennoch ein paar schicke Soli), es werden keine tausend Mal gehörte harmonische Strukturen noch weiter ausgenudelt (was der emotionalen Tiefe der Songs keinen Abbruch tut – im Gegenteil!); auch klanglich orientiert sich „Bilateral“ eher an „After„, steht also dem Black Metal durchaus nah.

Und damit – es tut mir Leid! – bin ich dann doch bei einer „Song By Song“-Abhandlung angelangt: Der bereits erwähnte Opener bewegt sich zwischen QUEENs Symphonik und OPETHs Epik, der Zehn-Minuten-Brecher „Forced Entry“ dagegen lässt sich kaum in zwei Sätzen beschreiben: Neben fantastischer Polyrhythmik, schrägen Keyboards und variablem mehrstimmigen Gesang enthält der Song alles, was LEPROUS ausmacht. „Restless“ enthält ein paar Gesangs-Passagen, die mir auch beim zwanzigsten Anhören eine Gänsehaut den Rücken herunterjagen. In „Thorn“ gibt es Vocals, die ein wenig an den Soundtrack zu Disneys „Aladdin“ erinnern (was keine Kritik ist!), es gibt eine tolle jazzige Trompete und einen Gastauftriff von IHSAHN himself am Mikro. Das nachfolgende „Mb. Indifferentia“ ist die Ballade des Albums, Solberg klingt über dem an PORCUPINE TREE erinnernden Stück spürbar verletzlich – um sich danach in „Waste Of Air“ über tonnenschweren Gitarren am Synthesizer auszutoben. „Mediocrity Wins“ (was für eine Ironie!) erinnert mich an MANES‚ „Come To Pass“ – Rap im 7/8-Takt. Grandios!

Das waren jetzt sieben der zehn Songs. Wer jetzt immer noch nicht geschnallt hat, worum es sich bei „Bilateral“ handelt, darf im Folgenden noch einmal die Kurzform lesen. LEPROUS spielen nicht bloß progressive Musik: „Bilateral“ ist bis in die feinsten Details das Ergebnis einer Vision, einer progressiven Geisteshaltung. Was die Norweger hier abliefern, gehört ohne Zweifel zur Weltspitze zeitgemäßer düsterer Musik. Die mit 20 bis 26 Jahren relativ jungen Musiker spielen damit in einer Liga mit MADDER MORTEM, die mich mit jeder ihrer Veröffentlichungen mehr begeistern. Wer also eine Schwäche für progressive Musik abseits ausgetretener Pfade hat, und vielleicht noch etwas mit dem Begriff „Avantgarde“ anfangen kann, sollte sich „Bilateral“ unbedingt anhören.

07.08.2011
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