Kora Winter - Gott Segne, Gott Bewahre

Review

Der Begriff „Deutschsprachiger Post-Hardcore“ lässt praktisch wie von selbst an FJØRT denken. Das liegt hauptsächlich daran, dass die Aachener ihre musikalische Spielweise nun mal derart stilsicher und ikonisch in Szene setzen, dass sie damit praktisch den goldenen Standard gesetzt haben. Entsprechend kehrt man bei Besprechungen von Alben im vergleichbaren Fahrwasser irgendwie auch immer zu ihnen zurück – so auch bei den hier gegenständlichen KORA WINTER, die sich nun mal in dem Metier bewegen, das man abwertend als FJØRTcore bezeichnen könnte. Der Gesang, die Hardcore-Komponente und die Beschaffenheit der Texte, das alles weckt Assoziationen. Da stellt sich weniger die Frage, was die Band auf ihrem neuen Album „Gott segne, Gott bewahre“ gleich machen, sondern eher, was sie anders machen.

Dynamik wird auf „Gott segne, Gott bewahre“ groß geschrieben

Und da gibt es tatsächlich einiges zu besprechen. Reißen wir zunächst einmal die musikalische Komponente an. KORA WINTER liebäugeln zum Beispiel in ihrem Sound mit einigen modernen Prog-Verweisen. Das manifestiert sich in unterschiedlicher Manier, zum Beispiel geht es auf „BBDDSSMM“ richtig hart und technisch zur Sache, während Synth-Streicher in „Alle gegen Alle“ eine erfrischende Art-Rock-Komponente in den Sound einbringen oder der Rausschmeißer „Schuld“ richtig dramatisch und emotional aufgezogen wird mit einer mächtigen, durchschlagskräftigen Klimax. Das kann selbst so etwas oberflächliches sein wie ein immer mal wieder auftauchender Hang zu Djent-artigen Downtuning-Riffs. Bezeichnend für die Berliner ist aber, dass sie ein geschicktes Songwriting-Händchen zeigen und wissen, wann sie laterales Songwriting, wann zyklisches anwenden müssen.

Und das zahlt sich aus, wenn das dem Intro „(Fifteen Seconds To Think)“ folgende „Der missratene Sohn“ in gerade mal zweieinhalb Minuten Spielzeit eine massive Furche nach sich zieht, perfekt auf den Punkt kommt ohne in unnötige Wiederholungen gezwungen zu werden und dadurch keine Sekunde länger als notwendig in Anspruch nimmt, um den Einschlag nicht abzuschwächen. Das Ende von „Das Trauma die Trauer“ setzt da sogar noch einen drauf und lässt den Song in massiver Manier mit einem niederschmetternden Post-Metal-Abschluss ausklingen. Doch selbst wenn sie nicht annähernd so viel Volldampf geben wie im Rausschmeißer „Schuld“, kommt die emotionale Durchschlagskraft von „Gott segne, Gott bewahre“ voll zur Geltung einfach dank der geschickt gesteuerten Dynamik. Dieses Geschick verleiht Songs wie „BBDDSSMM“ an den richtigen Stellen eine unfassbare Gravitas.

KORA WINTER sind mehr als nur FJØRT- oder HIRSCHcore

Doch auch die Tracks, die klassisch um Hooks herum geschrieben sind, gehen den Herren extrem gut von der Hand und hinterlassen bleibende Eindrücke. Vieles hat dahingehend auch mit der Wechselwirkung zu tun, welche die Texte mit der Musik entwickeln. Sänger Hakan Halaç intoniert die Lyrik ausgesprochen kompetent, ohne auch nur ein einziges mal in diese typisch deutsch klingende, plumpe Artikulation abzudriften, die gerne mal speziell im Deutschrock Einzug hält. Das ist auch bitter nötig, um die Texte, deren zentraler Gedanke Reflexionen über das Leben als Migrant ist, mit der vollen, beabsichtigten Wucht einschlagen zu lassen. Wie sonst könnte man eine Refrainzeile der Marke „Ich fress‘ Dreck und Dreck frisst mich“ („Marmelade“), die von Halaç geradezu ausgespien wird, so unmittelbar mitfühlen?

Dass KORA WINTER u. a. schon mal im Vorprogramm von THE HIRSCH EFFEKT gespielt haben, merkt man sofort. Dass sich die Berliner bei genauerem Hinhören dennoch ausreichend von den offensichtlichen Referenzen abgrenzen, zeigt zweierlei. Zum einen ist es natürlich ein Indikator, dass die Herren hier kein Abklatsch der Marke 8KIDS sind, sondern ihre eigene Identität vorweisen dank ihrer Gewandtheit und ihrer progressiven Ansätze, die jedoch nie überhand nehmen und so den erwähnten Hannoveranern zu ähnlich werden. Zum zweiten aber zeigt es, dass hier in diesem Genre des deutschsprachigen (Post-)Hardcore noch so viel unentdecktes Potential jenseits von FJØRT und THE HIRSCH EFFEKT steckt, das von behänden Musikern ausgeschöpft werden möchte. KORA WINTER jedenfalls sind solche Musiker, die diesen Fundus ergründen und deren Schaffen daher auch mindestens aufmerksame Beobachtung verdient.

17.11.2023

Redakteur für Prog, Death, Grind, Industrial, Rock und albernen Blödsinn.

Exit mobile version