King Diamond - The Spider's Lullabye

Review

Zu Beginn der Neunziger sah es für die Band KING DIAMOND nicht optimal aus. Das sehr gute ‘90er-Album “The Eye” wird von Roadrunner Records quasi kaum beworben, das Produktionsbudget ist knapp und der King selbst beschließt zudem, seine alte Band MERCYFUL FATE zu reaktivieren und veröffentlicht mit ihnen 1993 und 1994 die starken Alben “In The Shadows” und “Time”. Zudem verlassen bis auf Gitarrist und Songwriting-Partner Andy LaRocque alle Musiker KING DIAMOND, nachdem “The Eye” so eine frustrierende Erfahrung war. Als Ersatz rekrutiert der Nukleus drei Musiker der Progressive-Metal-Band MINDSTORM aus Dallas, nämlich Herb Simonsen an der zweiten Gitarre, Chris Estes an Bass und Keyboards und Darin Anthony an den Drums. Sie werden zu zwei Dritteln noch bis “Voodoo” von 1998 an Bord bleiben.

KING DIAMOND in den Neunzigern

War “The Eye” ja noch klar erkennbar in den Achtzigern entstanden und von deren Charakteristika geprägt, läutet “The Spider’s Lullabye” deutlich eine neue Ära bei KING DIAMOND ein. Ähnlich wie die beiden vorausgehenden Werke von MERCYFUL FATE hat Andy LaRocque den Sound in den Neunzigern weitaus trockener – auf späteren Alben mitunter recht pappig – gestaltet. Außerdem ist das “Spinnenschlaflied” das erste Album seit dem Debüt “Fatal Portrait”, das keine durchgehende Horror-Story erzählt, sondern größtenteils voneinander unabhängige Geschichten behandelt.

Da die zu Beginn der Neunziger initiierte Reunion mit MERCYFUL FATE schon recht erfolgreich war, sah sich zum Glück auch KING DIAMOND nicht gezwungen, auf Groove-, Alternative- und Neo-Thrash-Trends der damaligen Zeit aufzuspringen. Stilistisch bleibt sich die Band treu und zelebriert traditionellen, technisch anspruchsvollen Metal mit Horror-Atmosphäre und progressiver Note.

“The Spider’s Lullabye” läutet einen leichten Abwärtstrend ein

Das konstant hohe Niveau von “Abigail” bis “The Eye” können KING DIAMOND inzwischen nicht ganz halten. Trotzdem macht sich die Band in den Neunzigern gut und hält die Flagge der Tugend aufrecht. “The Spider’s Lullabye” ist die vielleicht stärkste Platte des Kings aus diesem Jahrzehnt und im Gesamtschaffen des Königs sogar stark unterbewertet.

“From The Other Side”, das stimmungsvolle “The Poltergeist” oder “Moonlight” sind typische KING-DIAMOND-Songs der oberen Güteklasse und stehen den Vorgängern in nichts nach. Die letzten vier Songs des Albums formen doch noch eine Quadrilogie mit durchgehender Geschichte – es geht um einen verrückten Arzt, der Menschen vermeintlich von ihrer Arachnophobie heilen kann – und sind der Höhepunkt des Albums. Hier werden alle Stilmittel Diamond’scher Erzählkunst aufgefahren. Besonders cool ist, wie das hektische, in hohen Lagen gespielte Cembalo das Rennen der Spinnenbeine musikalisch umsetzt. Der Autor findet Spinnen übrigens ebenfalls ziemlich ekelhaft und bekommt bei dieser Stelle immer Gänsehaut.

Der angesprochene leichte Abwärtstrend hat mit einigen Stücken zu tun, die das Niveau nicht ganz halten können und erstmals seit “Fatal Portrait” latenten Füllcharakter haben. “Dreams” und “Six Feet Under” fehlt es an zwingenden Hooks und den typisch unwiderstehlichen Breaks; beide wirken gewollt sperrig und um die Ecke gedacht.

Prädikat: Empfehlenswert

“The Spider’s Lullabye” steht sicher nicht an erster Stelle der Alben, die man einem Neu-Fan von KING DIAMOND empfiehlt, aber es ist eines der ersten Alben, die man nach den Eighties-Klassikern zum Durchstöbern der Diskografie erkunden darf. Für den Autoren war eine schäbige Kopie der Stadtbibliothek zu Chemnitz vor zwei Jahrzehnten im zarten Alter von 11 sogar der Einstieg in die Band und begründete eine Liebe, die bis heute ungebrochen hält. Zu dieser Zeit, als der King seine Band und MERCYFUL FATE eine Zeit lang parallel betrieb, hatten letztere zwar meist die Nase vorn. Vorliegende Platte zählt dennoch zur stärkeren Hälfte der Diskografie und macht knapp dreißig Jahre nach ihrer Veröffentlichung immer noch Spaß.

22.05.2024

Redakteur | Koordination Themenplanung & Interviews

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