Khemmis - Deceiver

Review

KHEMMIS sind ein Segen für unsere Subkultur. Sie ehren alle wichtigen Traditionen des Genres und denken die Musik gleichzeitig vorwärtsgewandt. Sie imponieren dem Underground durch schrulligen Idealismus und können gleichzeitig auch die Massen begeistern. Ihr unverwechselbarer, sehr eigenständiger Stil zwischen Heavy Metal, Doom, einem winzigen Hauch altem Melodic Death Metal und herrlicher Melancholie ist bereits perfekt und kann sich darauf ausruhen, nur noch Nuancen seiner Möglichkeiten erkunden zu müssen. Das gelingt KHEMMIS auf ihrem nunmehr vierten Album “Deceiver” so gut wie zuletzt auf dem großartigen “Hunted” (2016) und beweist, dass sie eine jener Bands sind, die eines fernen Tages, wenn – wir wollen eigentlich gar nicht daran denken – MAIDEN, PRIEST und Co. endgültig abgedankt haben, die absolute Speerspitze der gesamten Heavy-Metal-Szene bilden werden.

KHEMMIS: Meister der Melancholie

Kaum einer Band gelingt es, Weltschmerz und Traurigkeit so schön zu verarbeiten, ohne nur im Ansatz auf billige Tricks und Plattitüden aus der Gothic-Emo-Mottenkiste zurückgreifen zu müssen. Dennoch ist “Deceiver” vermutlich das bisher düsterste Album der Herrschaften aus Denver, Colorado. Das abermals von Sam Turner großartige und zu allen bisherigen KHEMMIS-Alben passende Cover deutet diesen Umstand bereits an. Möchte der Opener “Avernal Gate” zwar zunächst mit zart-fragilen Akustikgitarren antäuschen, fragt man sich wenige Momente später, ob hier ein übrig gebliebenes Riff des letzten AT-THE-GATES-Albums weiterlizensiert wurde. So brachial ist die Band noch nie in ein Album eingestiegen. Da sich das majestätische Feeling jedoch schnell über die typischen Gesangsmelodien und die großartige Stimme von Sänger Phil Pendergast einstellt, ist festzustellen, dass auch diese etwas ruppigere Art sehr gut zu KHEMMIS passt.

Wie oben erwähnt, sind stilistische Neuerungen innerhalb des eigenen Stils auf “Deceiver” ansonsten kaum zu erwarten. Letztlich sind sie auch nicht wünschenswert. Dafür beweisen sie mit den anschließenden Songs “House Of Cadmus” und der ersten Single “Living Pyre”, das sie ihr gewohnteres, doomig-stampfendes Terrain noch sehr gut beherrschen. Nebenbei ist festzustellen, dass KHEMMIS zudem auf inhaltlicher Ebene neue Dimensionen der Dunkelheit erkunden. Gerade “House Of Cadmus” ist fast ohne Hoffnung; das lyrische Ich kennt keinen schonenden Umgang mit sich selbst. “Living Pyre” ist gar fast komplett traditioneller Doom Metal der CANDLEMASS-Schule und schmälert jegliche Fröhlichkeit auch musikalisch.

“Deceiver” hat Klassiker-Potenzial

Seine größten Stärken spielt “Deceiver” übrigens in den beiden längsten Tracks des Albums aus. “Shroud Of Lethe” kennt zu Beginn tatsächlich mal so etwas wie einen Lichtblick (musikalisch; textlich liegt das lyrische Ich weiterhin am Boden und wird von sich selbst und der Welt gefoltert) und hat eine zum Sterben schöne Hookline, die sowohl für die Live-Situation (gereckte Fäuste, schiefe Fanchöre) als auch die heimisch-depressive Einsamkeit (Tagebuch, Rotwein, whatever you need) einen schönen Rahmen bildet. Das abschließende “The Astral Road” spielt sich sogar unter die besten KHEMMIS-Songs aller Zeiten. Das dramatische Riff nimmt einen sofort mit; der Chorus geht tief unter die Haut. „I’m praying for the rain / to take it all away. / There’s nothing waiting for us now / I’m broken but unashamed.“ Alter, was auch immer Phil oder die Band erlebt hat – lasst uns einfach hoffen, dass die Coping-Strategien zielführend und die Therapeut:innen in Denver günstig sind.

KHEMMIS haben das Zeug, schon bald zur internationalen Speerspitze des gesamten Genres zu gehören – falls es nicht schon längst soweit ist. Dazu trägt auch eine wahnsinnig dichte, warme und audiophile Produktion bei, die sich von den vorigen der Band nicht groß absetzt, allerdings spürbar mehr Volumen hat, ohne nach künstlichem Pomp oder unnötig schmierigen Ambience-Spuren zu klingen. Das beweist auch, dass ein Wechsel zu Nuclear Blast absolut nichts mit künstlerischem Ausverkauf zu tun hat, um einer Diskussion aus dem Kindergartenniveaukeller gleich mal vorzubeugen. KHEMMIS sind mit “Deceiver” genau da, wo wir sie brauchen – auf einem steilen Weg nach oben und hoffentlich bald auf Headliner-Tour in Europa.

P. S.: Nach vielen weiteren Durchläufen und einer intensiveren Auseinandersetzung sehe ich mich gezwungen, meinen 8 Punkten aus dem Soundcheck noch einen Punkt hinzuzuaddieren, um dieses Album angemessen zu würdigen.

12.11.2021

Redakteur | Koordination Themenplanung & Interviews

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