„Epica“ und mit etwas Verspätung auch „The Black Halo“ habe ich förmlich vergöttert. Dagegen verflog bei „Ghost Opera“ die anfängliche Begeisterung allzu rasch, während sie bei „Poetry For The Poisoned“ erst gar nicht aufkommen wollte. Und nun also „Silverthorn“, das erste Album mit Neuzugang Tommy Karevik hinter dem Mikrofon. Ein Neustart für KAMELOT, zurück zu den Wurzeln?
Nein, wieder bei Null zu beginnen kommt für KAMELOT nicht in Frage. Wäre auch irgendwie dämlich, denn ihren eigenen Stil haben sie längst etabliert und obwohl ich persönlich mich in die letzten beiden Veröffentlichungen nicht mehr richtig hineinfühlen konnte, waren diese doch ausgesprochen erfolgreich und zementierten den Status der international besetzten Melodic-Metal-Überflieger. Dennoch wirkt „Silverthorn“ insgesamt weniger düster und verschachtelt. Selbst wenn das Album in dem 9-minütigen Epos „Prodigal Son“ kulminiert, stehen ein nachvollziehbarer Songaufbau und eingängige Melodien im Fokus.
Die Progressivität ist indes nicht verschwunden, sie drängt sich nur nicht mehr so stark auf wie zuletzt. Und davon profitiert der Wohlfühl-Faktor von „Silverthorn“ enorm. Da mag die zugrundeliegende Konzept-Geschichte, die „von Verzweiflung, Schuldgefühl und Wahrheitsfindung“ erzählt, noch so viel düsteres Geistergeschichten-Flair verströmen, letztlich stellt sich beim Hören der Scheibe ein angenehm positives Gefühl ein. Die sakral anmutenden Orgel und Orchester-Passagen – überragend arrangiert von Michael „Miro“ Rodenberg – verleihen den Kompositionen eine majestätische Erhabenheit, ohne sich allzu dominant in den Vordergrund zu spielen.
Einen bunten Reigen an Gastmusikern haben KAMELOT zu sich ins Studio eingeladen. AMARANTHE-Sängerin Elize Ryd zählt als Background-Sängerin ohnehin inzwischen zum festen Ensemble, während das Produzententeam Miro / Sascha Paeth auch selbst Hand an einige Gitarren- und Keyboard-Passagen gelegt hat. Neben diversen Chor-Sänger(inne)n kommen noch das All-Female-Streich-Cover-Quartett EKLIPSE und THE-AGONIST-Sängerin Alissa White-Gluz hinzu. Letztere erregt besonders mit ihren Growls im Opener „Sacrimony (Angel Of Afterlife)“ Aufmerksamkeit, die frappierend an den Beitrag von DIMMU-BORGIR-Frontkeifer Shagrath zu „The Black Halo“ seinerzeit erinnern – beeindruckend!
Die eigentlich spannendste Frage, vor deren Beantwortung ich mich nun bereits vier Absätze lang gedrückt habe, bleibt aber, inwiefern Tommy Karevik die Fußstapfen von Roy Khan ausfüllen kann. Jegliche Kritik an der Leistung des Schweden bewegt sich dabei auf höchstem Niveau, denn er schafft es nahtlos an die großartigen Leistungen seines Vorgängers anzuknüpfen. Für meinen Geschmack aber eine Spur zu nahtlos. Ohne entsprechendes Vorwissen dürften viele womöglich kaum bemerken, dass es einen Sängerwechsel bei KAMELOT gegeben hat, denn Karevik trifft Stil und Ausdruck seines Vorgängers perfekt. Dadurch macht er allen KAMELOT-Fans die Umstellung denkbar leicht, verpasst aber die Gelegenheit, eigene Akzente zu setzen. Die Ballade „Song For Jolee“, mit der Karevik und Keyboarder Oliver Palotai für zentimeterdicke Gänsehaut sorgen, lässt erahnen, was hier eigentlich möglich gewesen wäre.
Verabschiedet man sich aber von dem Gedanken, dass ein neuer Sänger auch für eine Extraportion frischen Wind sorgen müsste, erhält man mit „Silverthorn“ ein Album, das alle Stärken von KAMELOT bündelt und die beiden Vorgänger deutlich in den Schatten stellt. Abwechslungsreiche Kompositionen, die für sich stehen können, jedoch erst im Album-Kontext ihre volle wirkung entfalten, findet man hier zuhauf, auf Füllmaterial konnte komplett verzichtet werden. Der dadurch entstehende Spannungsbogen erinnert ein wenig an den Aufbau der jüngsten NIGHTWISH-Scheibe, zumal das Intro „Manus Dei“ und der „Abspann-Song“ „Continuum“ echtes Hollywood-Breitbild-Flair aufkommen lassen, ohne dabei den Kitschfaktor überhandnehmen zu lassen. So ist es keineswegs ein Zufall, dass „Silverthorn“ schon jetzt deutlich mehr Hördurchgänge in meiner heimischen Anlage hinter sich hat als die „Ghost Opera“ und „Poetry For The Poisoned“ zusammengenommen.
Ein besonderes Schmankerl verspricht die „Limited Edition“ des Albums zu werden, die auf einer Bonus-CD Instrumentalversionen aller Albumstücke enthält und sich damit wieder einmal als perfektes Futter für die akustische Untermalung zukünftiger Rollenspiel-Abende eignen dürfte. Auch hier hat man sich womöglich NIGHTWISH zum Vorbild genommen, was meiner persönlichen Meinung nach zukünftig gerne noch viele weitere Bands tun dürfen. Und wer mit gesangsbefreiten Song-Varianten nichts anfangen kann, darf eben auch mit der Standard-Version des Albums glücklich werden.
Und wie wird es nun weitergehen im Hause KAMELOT? Der Hidden-Track, der sich als eine Art musikalisches „to be continued“ entpuppt, deutet an, dass die Konzept-Geschichte von „Silverthorn“ noch weitergehen könnte und wir – wie bereits im Falle von „Epica“/“The Black Halo“ – möglicherweise mit einer Fortsetzung der Konzeptgeschichte rechnen können. Ich zumindest könnte mir definitiv schlimmeres vorstellen…
Ein kleines Addendum zur „Limited Edition“, die mir inzwischen auch vorliegt:
An sich ist diese in ihrer Aufmachung erfreulich hochwertig und angesichts des geringen Aufpreises zur normalen Auflage auch absolut lohnenswert. Insbesondere das beigefügte Büchlein, in dem die Story von „Silverthorn“ erzählt wird (natürlich in englischer Sprache), weiß zu gefallen. Allerdings entpuppen sich die Instrumentalversionen auf der Bonus-CD leider als Mogelpackung. Irgendwo habe ich im Netz die Meinung gelesen, dass der Begriff „Karaoke-Version“ besser gepasst hätte und dem kann ich mich nur anschließen. Lediglich der Leadgesang fehlt den Stücken, Background-Chöre, Sprach-Samples und dergleichen sind nach wie vor vorhanden. Das ärgert mich vor allem deshalb, weil sich die Songs dadurch für den von mir angestrebten Einsatz zur musikalischen Untermalung am Rollenspiel-Tisch leider überhaupt nicht eignen. Schade, das haben Nightwish bei ihren beiden letzten Alben wesentlich besser gelöst.
Musikalisch ist „Silverthorn“ richtig gut. Aber das Konzept nervt mich tierisch. Was soll dieser ganze Goth-Kram? Die Texte gleiten ab in Schmalz und Kitsch. Tiefsinn ist vorgetäuscht. Die von vielen beschworene Düsternis dieses Albums besteht in Schuld, alles ziemlich schlicht, das fällt doch sehr ab gegenüber früheren Alben. Egal wie heftig es musikalisch rockt und rumpelt. Was Roy Khan wohl daraus gemacht hätte, mit derselben Musik? Und Tommy hat doch bei Seventh Wonder auch in einer ganz anderen Liga inhaltlichen Anspruchs gesungen. Ich begreife nicht, wie er Amanda Sommerville & Co. hier derart auf den Leim gegangen ist.