Kümmern wir uns zunächst einmal um das Offensichtlichste: Das Artwork dieses Albums ist der reinste Kitsch und mein Vater würde vollkommen richtig sagen: „Da kann man nur mit der Schrotflinte draufhalten“. Aber uns interessiert, was dahinter steckt: die Musik. KAIPA sind tatsächlich eine der dienstälteren, noch aktiven Kapellen der Prog-Szene, deren Gründungszeit in die Siebziger zurück reicht. Dennoch zeigt sich die Band um Chef Hans Lundin heuer vor allem dem zeitgenössischen Retro-Prog mit mal mehr, mal weniger prägnantem Folk-Einschlag versehen verpflichtet. Vielleicht hat hier u. a. der Blumenkönig Roine Stolt höchstselbst auf das Songwriting abgefärbt, der lange Zeit in der Formation musiziert hat und nach dem 2005er Werk „Mindrevolutions“ ausgestiegen ist.
Wieder schaffen KAIPA weitläufige, atmosphärische Klanglandschaften
Dennoch sind die Damen und Herren auch auf den für nicht-schwedische Zungen gar unaussprechlichen, neuen Album „Sommargryningsljus“ nicht allzuweit von Stolts Wirkungsradius entfernt, möglicherweise klingen sie aber auch immer mehr nach THE TANGENT. Das bedeutet übersetzt, dass sich wenig verändert im Klangkosmos im Gegensatz zu den Vorgängern. Die Stellschrauben wurden wieder einmal nur marginal verdreht, aber ansonsten findet man hier vor allem überlange, hauptsächlich getragene und nicht allzu impulsive Retro-Prog-Kompositionen mit folkigem Flair, für die man sich als Hörer Zeit nehmen sollte und für die man angesichts der Spielzeit von schlappen 80 Minuten auch ordentlich Sitzfleisch mitbringen sollte.
Es geht mehr um Atmosphäre, was vor allem im Metal-Bereich ein großes Wort ist. Im Retro-Prog – im höherqualitativen zumindest – kann man seinen Verstand durchaus mal auf Reisen in lebendige Klanglandschaften schicken, von denen es reichlich auf „Sommargryningsljus“ zu entdecken gibt. Fantasievolle Instrumentalpassagen wie beispielsweise in „Revelationview“ leisten vortreffliche Arbeit darin, malerische Panoramen vor dem geistigen Auge entstehen zu lassen. Die zum Teil echt guten Gesangsharmonien zwischen Aleena Gibson und Patrick Lundström setzen dem die Krone auf und die feinfühlige Instrumentierung, herausgearbeitet durch eine beispielhaft transparente Produktion, erledigt den Rest. Großartig sind auch die Kontrapunkte, die Gibson und Lundström beispielsweise gegen Ende von „Seven Birds“ singen.
Trotz Hang zu instrumentalen Ausschweifungen bleibt „Sommargryningsljus“ gefällig
Was sich nicht vermeiden lässt bei so vielen Longtracks auf einem Haufen, sind die instrumentalen Abwege, auf die KAIPA immer mal wieder zwangsläufig geraten. Durch den Mangel an Impulsivität – oder sagen wir mal lieber: den Fokus auf Stimmung – kann sich der Hörgenuss von „Sommargryningsljus“ bisweilen als etwas zäh erweisen. Da hilft wenig, dass die Tracks praktisch durchgehend im gemächlichen Midtempo unterwegs sind mit nur wenigen rhythmischen Variationen zwischendrin. Doch die ansprechenden Texturen und Melodien, die hier gefertigt worden sind, leisten gute Arbeit darin, einen Großteil dieser Falten glatt zu bügeln.
Man muss natürlich eine gewisse Resistenz gegenüber exzessiver Songspielzeiten mit dabei haben. Denn abgesehen vom Intro und dem abschließenden Titeltrack läuft kein Song in unter neun Minuten in der Zielgeraden ein. Die typisch skandinavische Melancholie wird auch selten wirklich aufgebrochen, Prog-typisch wird dazu gern ein kühler Mellotron-Schauer drüber gelegt. Aber wer die Geduld und das Sitzfleisch mitbringt, findet hierin ein mehr als gefälliges Album – ein Konzeptalbum übrigens, das den Hörer von der Abenddämmerung durch die Nacht hin zum nächsten Morgen führt. Was das Konzept von Tageszeiten angeht, so gibt es natürlich deutlich intuitivere Referenzwerke wie beispielsweise „Ótta“ von SÓLSTAFIR, aber KAIPA inszenieren ihren Sound geschmackvoll genug, dass man sich doch gern entspannt mitziehen lässt …
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