Jordsjø - Nattfiolen

Review

Norwegens Wälder rascheln sanft und sind von kuriosen Folk-Klängen erfüllt, die sich Nebelschwaden gleich um die Bäume klammern und sich vorsichtig aber bestimmt voranarbeiten – oh ja: Norwegens wortkarge Prøg-Druiden JORDSJØ sind wieder da. Håkon Oftung, einst gekommen aus dem Hause TUSMØRKE, braut mit Kristian Frøland und einigen Gästen im Tandem wieder ein neues Süppchen namens „Nattfiolen“ zusammen, dessen Geschmack auf den skandinavischen Prog der Neunziger hinweist. Vor allem schmeckt es nach den Schweden ÄNGLAGÅRD und Konsorten, aber das hiesige Gebräu wurde natürlich dem persönlichen Gusto des agierenden, norwegischen Duos angepasst.

JORDSJØ begeben sich tiefer hinein in den Wald

Der Vorgänger „Jord“ hat große Spuren hinterlassen, die es von JORDSJØ auszufüllen gilt. Hier traf deren spärlich besungene Prøg auf organisch intonierten Folk und ergab eine seltsame Symbiose, die Kräuterfetischisten und Prog-Nerds, die ihre KING CRIMSON, CAMEL und (klassische) GENESIS von der melancholischeren, atmosphärischeren Seite präferieren, gleichermaßen mundete. Eine symphonische Komponente ließ sich ebenso wenig leugnen, wie auch der klangliche Fokus auf Orgel respektive Klavier, wobei auch die Querflöte gerne in der ersten Reihe… nun ja… flötete. Unterdessen verhalf allein die Rock-Komponente zu beherzten Schritten seitens der Waldschrate in Richtung Zivilisation.

Mit „Nattfiolen“ machen die Norweger im Grunde genau dort weiter mit dem Unterschied, dass sich die Herren möglicherweise ein Stück weiter in den Wald zurückgezogen haben. „Songs From The Wood“, aber düsterer, atmosphärischer und skandinavischer. Die rockigeren Passagen von „Jord“ wurden etwas eingedampft, sodass „Nattfiolen“ einen noch organischeren Charakter für sich beanspruchen kann, während Hammondorgel und Klavier sowie Quer- und Blockflöte neben weitestgehend cleaner, aber auch mal leicht angezerrter oder akustischer Gitarre weiterhin die Musik bestimmen. Das fast durchgehend feinfühlig gespielte Schlagzeug legt sich mit dem subtilen Bass unter das Geschehen und treibt dieses elegant voran.

Lebhaftes Naturgewusel…

In diesem Fall ist weniger tatsächlich mehr, denn der Schritt weiter hinein in die Natur erweist sich als wahrer Glücksgriff für „Nattfiolen“, das seinen Vorgänger übertrumpft. Und der war schon großartig, doch JORDSJØ setzen hier noch mal einen drauf mit einem Album, das praktisch die Essenz des progressiven Folk zelebriert. In ihren sanfteren Momenten kommen die Songs einem stimmungsvollen Gang durch den Wald gleich, in den geschäftigeren Momenten muten sie wie das ungestörte, nachtaktive Gewusel in der Natur an. Da passt es ja, dass die Nacht als solche ein wiederkehrendes Thema des Albums ist, sie steckt ja praktischerweise im Albumtitel drin.

Unabhängig von Intensität und Dichte der Instrumentierung tobt in den Songs dennoch durchweg das Leben. Und das Eintauchen in diese seltsame Welt fällt dank des glasklaren Sounds sowie der stets nachvollziehbaren Kompositionen erstaunlich leicht, besonders wenn man bedenkt, dass die Band dieses Mal keinen poppigen Kompromiss der Marke „La Meg Forsvinne!“ eingeht, sondern konsistent bei der progressiven Sache bleibt. Die eröffnende „Ouverture“ begrüßt den Hörer mit sanften Flötenklängen, die auf Klaviertupfern dahin getragen werden. Diese laden den berüchtigten Sirenen aus der homerischen Odyssee gleich verführerisch ein, ihnen in den Wald hinein zu folgen.

… und gespenstische Nachtschwärmerei

Doch statt einem grausigen Tod auf hoher See wartet stattdessen der deutlich freundlichere „Stifinner“ auf den Hörer, um diesen mit einem pompösen Einstieg warm in Empfang zu nehmen – und mit ihm auf Entdeckungsreise zu gehen. Die eröffnende Passage, die zum Schluss des Tracks noch einmal aufgegriffen und weiter erforscht wird, hat fast etwas Jubilierendes an sich. Der Song unternimmt dann im weiteren Verlauf eine wahre Wanderung durch verschiedene Stimmungen und deckt dabei neben klassischem, atmosphärischem Folk auch mal mystische, mal ominöse Klanglandschaften ab. Und eine frech keckernde Orgel meldet sich zwischendurch zu Wort, die mit der Querflöte um die Wette zwitschert.

Auch „Solens Sirkulære Sang“ zeigt sich abenteuerlustig, beginnend mit neugierig aus dem Orgelwald hervorspitzenden Flötenklängen, unter die sich dann allmählich ein leicht nach der OPETHschen Verdammnis klingender Song legt. Der biegt dann aber in düstere Gefilde ab, die dank der knorzenden Bassgitarre und der stampfend groovenden Rhythmik eine überraschende, sinistre Heaviness mitbringen. Es spukt förmlich im Geäst. Das kontrapunktierende Gewusel, das sich in dieser Passage aufbaut, erweist sich als effektive Stimmungsmache. Doch auch gespenstisch auf- und abtauchende Synthesizer und Mellotronstreicher sorgen für einen kalten Schauer.

JORDSJØ übertreffen sich selbst

Auf „Mine Templer II“ zeigen sich JORDSJØ zugleich geradliniger und verspielter. Ein leichter Hauch Jazz und Blues weht durch den Track, während der Song fast ein bisschen was von einem koordinierten beziehungsweise routinierten Jam hat, in dem das Klavier die Harmonien vorgibt und die übrigen Instrumente immer sporadische, aber passende Beiträge liefern. Auch der wiederum sparsam eingesetzte, unaufgeregte Gesang fügt sich ins bunte Ensemble ein. Im ausgesprochen lebhaften Mittelteil blüht der Track dann förmlich auf, um dann wieder zu seinem Ausgangspunkt zurück zu finden.

Richtig nervös gestaltet sich zwischenzeitlich „Til Våren“, bei dem der Wuselfaktor bisweilen enorme Ausmaße annimmt, was wiederum durch die geisterhaften Synthesizer und die sanfte Akustikgitarre wunderbar kontrastiert wird. Der Song hat zudem ein beeindruckendes Finale, bei dem sich JORDSJØ fast in eine Art Trance hinein spielen. Die besagte Passage mutet seltsam ursprünglich und tribal an: Ein perkussiv stampfender Folk-Part scheint mit allmählich ansteigendem Tempo die musikalische Begleitung zu einem schamanischen Ritual zu beschreiben, löst sich dann aber wieder in sanfteren Klängen auf.

„Nattfiolen“ ist begeisternde Naturverbundenheit

Rundum gelungen begeistert „Nattfiolen“ auf so vielen Ebenen. Doch das beste ist: Die Kompositionen sind vielschichtig arrangiert und biedern sich zu keiner Zeit traditionellen Pop-Schemata an. Aber sie sind gleichzeitig so klar strukturiert, dass sie ob ihrer zum Teil enormen Komplexität hervorragend hörbar und zugänglich bleiben. Dazu ist die Verbundenheit zur Natur und die mitunter auch sehr düstere Mystik JORDSJØ mit jedem Ton anzuhören, beides trieft förmlich aus dem Album heraus. Die Norweger lassen klassischen Prog und Folk elegant und meisterhaft miteinander verschmelzen, als seien beide Musikstile wie füreinander geschaffen.

Und mit dem starken, durchdachten und geschmeidig fließenden Songwriting, das sich keine Aussetzer leistet und keineswegs vor krummen Takten und mehrstimmigen, ach was: mehrfach ineinander verschlungenen Melodien zurückschreckt, legen die Norweger das vorläufige Progressive-Folk-Highlight des Jahres 2019 vor. Also ab in den Kräutergarten mit euch, ab in die Natur, ab ins blühende Leben, ob in zivil, im Aufzug eines Waldschrates oder im Adamskostüm – die Norweger haben ihren Progressive Folk perfektioniert und das muss gefeiert werden.

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27.05.2019

Redakteur für Prog, Death, Grind, Industrial, Rock und albernen Blödsinn.

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