Jethro Tull - Nothing Is Easy: Live At The Isle Of Wight 1970

Review

Wie beginnt man ein Review über eine DVD von einer Band, die Unglaubliches geleistet hat, 15 Jahre bevor ich auf die Welt kam? Über ein Konzert, das eine Dekade vor meiner Geburt stattgefunden hat? Am liebsten möchte man sich davor verstecken, aus Angst ein falsches Wort zu sagen. Aus Ehrfurcht aber, die bei mir noch weit vor jeder Ängstlichkeit steht, will ich mich daran versuchen, dieses lang vergangene Ereignis – den legendären Auftritt von JETHRO TULL auf dem noch legendäreren dritten Isle-of-Wight-Festival im Jahre 1970 – angemessen darzustellen. Wir dürfen uns allesamt glücklich schätzen, dass dieses Konzert und der es umgebende Charme so brilliant filmisch dokumentiert sind (Bild- und Tonqualität sind übrigens mehr als sehr gut). Musikalisch bieten die Aufnahmen mit Material von den ersten vier Alben zwar nicht unbedingt Neues (eben Liveversionen von „Bouree“, „My sunday feeling“, „A song for Jeffrey“ [unglaublich schöne Darbietung aus dem „Rolling Stones: Rock and Roll Circus“], „My God“, „Dharma for one“, „Nothing is easy“ und einem Medley aus „We used to know“ und „For a thousand mothers“), alles andere Material ist allerdings mehr als sehenswert. Die überwiegenden Szenen aus dem Jahre 1970 werden mit aktuellen Kommentaren von Ian Anderson amüsant und sinnvoll ergänzt und bieten interessante oder sogar notwendige Hintergrundinformationen, um die fruchtbare rebellische Atmosphäre auf einem Festival mit 600.000 Gästen, kurz nach dem Höhepunkt der Hippiebewegungen, überhaupt nachvollziehen zu können. Es entzieht sich völlig unserer Vorstellungskraft, dass über eine halbe Million Menschen gemeinsam eine solche Veranstaltung besuchen, außer Spaß in Form von Musik, Alkohol und Sex nichts weiter wollen, friedfertiges Zelten auf den Hügeln im Umland nichts kostet und finanzielle Probleme der Veranstalter am Ende großmütig gelöst werden (indem die Veranstalter alle Zäune öffnen, hineindarf wer hineinwill, und die Band anbietet, für ein Zehntel der Gage zu spielen). Diese DVD erweitert Horizonte. Wer ist nicht gerührt davon zu sehen, wie eine Band wie JETHRO TULL ihre Instrumente ohne Geräte live auf der Bühne stimmt (ohne Rowdies…), die Bühne selbst kleiner ist als heute in Jugendzentren üblich, Fans für ihre Sache energisch und notfalls mit eindrücklicher Gewaltbereitschaft eintreten – und vor allem: wie Musik einmal geklungen hat. Für keine Band der heutigen westlichen Welt ist es denkbar, 8-Minuten-Stücke von hohem Schwierigkeitsgrad live einzuspielen, auf der Bühne derart viel ehrlichen und albernen Spaß an der Musik zu demonstrieren oder so selbstverständlich auf Politik und Extreme zu verzichten. JETHRO TULL haben das getan und darüber hinaus schon immer eine musikalische Meisterschaft repräsentiert, die noch immer ihresgleichen sucht, haben diese über jetzt fast 40 Jahre lückenlos vertreten und gehören zu den Bands, die trotz Abermillionen verkaufter Platten niemals abgehoben sind. Sprechen wir es doch einfach mal aus: soetwas wie dieses Festival, in allen seinen Dimensionen – Musik, Umfang und Qualität – GIBT ES HEUTE NICHT MEHR. Bands wie JETHRO TULL entstehen heute nicht mehr, entstehen seit Jahrzehnten nicht mehr. Festivals sind aufgeblähte Randgruppentreffen und Zurschaustellen von Lebensstilen, in die wir uns aus Angst vor dem Mittelmaß geflüchtet haben und die uns auch nicht glücklich machen. Musik ist zu schnellem, flachen Vergnügen geworden und die Musikindustrie zu einer viel zu mächtigen Maschinerie. Wir brauchen nicht nur die Einstellung der Bands von damals, sondern auch die der Fans, die damals schon verstanden haben, dass Musik vereinen und nicht trennen soll, dass Musikmachen und Musikhören zusammen gehören. Tauschbörsen und zwischen geistigem Negativniveau und unangebrachter Spitzfindigkeit pendelnde Tauschbörsen wären für einen Besucher des Isle of Wright genauso ein Skandal gewesen wie Zuschauer, die es nicht für nötig halten, nach einer Show ihrer angeblichen Helden auch nur zu klatschen. Es hat nur 35 Jahre gebraucht, um all das in der heutigen Generation so gut wie vollkommen vergessen zu machen. Macht möchte fast skandieren: „let’s go living in the past“. Obwohl, natürlich hat diese Zeit auch ihre Probleme und Widersprüche gehabt – im Vergleich zu heute waren es aber wenigstens sichtbare und offenliegende. „Nothing is easy“ ist ein kleiner, aber zumindest für mich ein sehr entscheidender Augenöffner. Ich hoffe inständig, für Euch wird es das auch sein.

15.06.2005

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