Erneut sitze ich hier – diesmal vor dem zweiten Album „In Disequilibrium“ der Zusammenarbeit zwischen ISILDURS BANE und Peter Hammill – und kann nicht anders als ob des Gehörten ins Schwärmen geraten. Selbst nach Ablauf der Honeymoon-Periode hat mich „In Disequilibrium“ fest im Griff. Diesmal möchte ich Euch, liebe Leser, allerdings von meiner bescheidenen Reimekunst verschonen und steige somit in die Review von „In Disequilibrium“ ein. Kommt einfach mal mit.
Das rockende Kammerorchester um Hauptkomponist Mats Johannson ist eigentlich mehr für weitgehend instrumentale Leistungen bekannt. Erwähnenswert ist der „MIND“-Zyklus (vor allem Volume 1), aber auch das ungleich jüngere „Off The Radar“ darf Uneingeweihten als generelle Einleitung in das Wirken der Damen und Herren fernab poppigerer Ausflüge dienen, bei dem neben klassischer Rock-Instrumentierung nebst Synthesizer auch allerhand Streicher, Bläser sowie Glockenspiel, Marimba und Perkussion das Klangbild maßgebend bestimmen. Das in Schweden beheimatete Ensemble hat sich jüngst aber prominente gesangliche Unterstützung für ihren komplexen Kammer-Prog geholt. Das war 2017 Steve Hogarth (MARILLION), der mit ISILDURS BANE zusammen „Colours Not Found In Nature“ aufgenommen hat.
ISILDURS BANE & PETER HAMMILL mit „In Disequilibrium“ zum Zweiten
Im gleichen Jahr taten sie sich mit Peter Hammill (VAN DER GRAAF GENERATOR) zusammen, was 2019 in der Veröffentlichung von „In Amazonia“ mündete. Diese Kollaboration geht mit „In Disequilibrium“ nun in die zweite Runde und hat auf „In Amazonia“ bereits wundersame Früchte getragen. Man mag ja nicht meinen, dass Hammills mitunter vergleichsweise schroffe Intonation sonderlich gut zum wuselfreudigen, vielschichtigen Kammer-Prog passt. Immerhin platziert man Hammills inbrünstig eingesetzte Stimme vorzugsweise vor einer Wall Of Sound bestehend aus Orgel, Klavier und (in früheren Zeiten) Saxofon. Insofern wirkt die Zusammenkuft seines Gesangs mit dem deutlich geschäftigeren Backdrop, das ISILDURS BANE liefern, erst einmal sehr heterogen.
Doch es fügt sich gefällig zusammen und klingt, sobald man sich damit angefreundet hat, nach wie vor ziemlich einzigartig. Peter Hammill findet immer den richtigen Riecher für die Stimmung und wechselt daher intuitiv zwischen kommandierender Präsenz und einfühlsamer Zurückhaltung. Das war auf „In Amazonia“ schon beeindruckend gelungen und sorgte, auch dank der regelmäßig auftauchenden Ethno-Einflüsse sowie klassischer Ornamentik, ein ums andere Mal für Gänsehautmomente. Diese Formel wird nun auf „In Disequilibrium“ zur Perfektion getrieben, wenn auch ohne prominent in Erscheinung tretendem, weltmusikalischem Beiwerk, dafür wieder mit mindestens gleichbleibendem Anteil an klassischen Arabesken. Im Grunde handelt es sich hier um ein Album, das aus zwei umfangreichen Kompositionen besteht.
Vorsichtiger Optimismus aus der Feder Hammills?
Diese wurden aber jeweils in mehrere, mundegerechte Segmente unterteilt. Beide Kompositionen zeichnen sich durch komplett unterschiedliche Stimmungen aus, wobei „Gently (Step By Step)“ titelgemäß die Sanftmütigere der beiden ist, während das Titelstück die rockigeren Charakteristika inne hat. Entsprechend gerät „Gently“ insgesamt deutlich zugänglicher und empfiehlt sich als Einstieg in das Gesamtwerk. Hier legen ISILDURS BANE den Fokus mehr auf Atmosphäre und lassen den Hörer durch verträumte Klanglandschaften wandern, bestehend aus großflächigen, filigran aus Synthesizern, Streichern und Bläsern gewobenen Klangteppichen, die Hammills melodischere Gesangslinien geschmeidig dahintragen.
Elektronische Beats und perlende Klänge aus Marimba, Vibraphon und höhenlastiger Gitarre unterstützen das zentrale Thema der Herbeisehnung eines neuen Tages. Die sanft aber bestimmt aufgetragene Instrumentierung bildet mit den Lyrics eine luftige Einheit, die von Hammills kantiger Darbietung jedoch felsenfest auf dem Boden der Tatsachen festbetoniert wird. Es ist verträumte Musik, die den Kopf jedoch nicht in den Wolken stecken hat. So bohren sich die isoliert betrachtet gelegentlich etwas schmalzig wirkenden Texte geschmeidig durch die Haut und direkt ins Herz hinein mit Zeilen wie:
Going gently into the night
In the moment hoping it will be alright.
Man bekommt zwischenzeitlich den Eindruck, dass hier in gewisser Weise auch das Warten auf den Tod thematisiert wird, gerade aufgrund wiederkehrender Bildnisse wie der Dunkelheit der Nacht oder dem Licht am Ende des Tunnels. Die Thematik wird jedoch mit den abschließenden Zeilen einschlägig auf den Punkt gebracht:
Leave the darkness of the past behind you
Because tomorrow will be a better day.
Trotz Heterogenität wirken die Protagonisten große, musikalische Magie
Diese Thematik spielt auf psychologischer Ebene sicher ein Stück weit auf die Pandemie respektive der Herbeisehnung deren Endes an. Sie greift damit den lyrischen Kern des vorangehenden Titelstücks auf, das titelgemäß eher einen Zustand der Unordnung beschreibt. Schön sind hier vor allem Schlüsselzeilen wie:
What were you thinking?
If you were even thinking at all.
Dabei wirkt der Grundton auch hier für Hammill-Verhältnisse uncharakteristisch optimistisch, speziell im dritten Teil des Stücks. Trotzdem muss sich der Hörer hier definitiv durch den sperrigeren Teil der Platte kämpfen. Dafür bekommt man jedoch ein nicht minder intensives Klangerlebnis geboten, das im Gegensatz zu „Gently“ eben mehr auf rockige Rhythmen mit Hang zu krummen Takten und polyrhythmischen Konstrukten mit organischem Schlagzeug und – speziell im ersten Teil – deutlich breitbandigere, kräftigere, mitunter auch dissonantere Melodien und ungelenk wirkende Grooves setzt.
Interessant ist aber auch, wie sich das Stück vom ersten zum dritten Teil hin entwickelt. Während der erste Part noch am sperrigsten gerät, brechen hymnische Gesangslinien und eine etwas geordnetere Melodieführung (bei gleichbleibendem Wuselfaktor) die Sperrigkeit zugunsten einer erhöhten Zugänglichkeit auf. Gegen Ende des zweiten Teils zeigen sich ISILDURS BANE gar von ihrer romantischeren, geradezu cineastischen Seite. Diese Entwicklung von der Sperrigkeit hin zur Eingängigkeit erlebt im dritten Teil folgerichtig ihre Vollendung, in dem Hammill in Begleitung pointierter Backing Vocals eine absolute Sahne-Hook aufs Parkett zaubert.
Gehaltvoll genug, um mindestens den nächsten Winter zu überleben
Es gibt hier schlicht und ergreifend viel zu entdecken, musikalisch wie lyrisch. Und es zahlt sich aus, sich die Zeit für den Genuss von „In Disequilibrium“ zu nehmen. Beide Stücke funktionieren sowohl in ihre Einzelteile unterteilt als auch in ihrer Gesamtheit hervorragend und suchen, was die diesjährig erschienenen Veröffentlichungen angeht, ihresgleichen. Der Stolperstein hin zum vollendeten Genuss der Platte mag für viele sicher erst einmal Hammills Stimme sein, doch man gewöhnt sich wirklich schnell dran und merkt dann, wie wunderbar sich beides trotz der offenbar vorherrschenden Heterogenität miteinander ergänzt. Und damit wächst die Platte mit jedem Hördurchgang ein bisschen mehr.
Dieses Album ist schlicht und ergreifend unglaublich. Die Tiefe hierhinter ist faszinierend, gleichzeitig aber auch nicht deprimierend oder demotivierend. Auch wenn man als Nicht-Prog-Fan vor der Vielschichtigkeit und Komplexität der Arrangements durchaus zum Kapitulieren neigen möchte, lohnt sich der Höraufwand definitiv. Denn hier liegt eines der ganz großen Jahreshighlights vor, mindestens mal des Progs. Und „In Disequilibrium“ bietet auch ausreichend Futter, um Kopf und Herz gleichermaßen mindestens mal durch den nächsten Winter zu bringen. Für die Klasse dieses Werkes empfehle ich persönlich am besten eine richtig gute Heimanlage. Funktioniert mit guten Kopfhörern und einem flüssigen Genussmittel der Wahl aber genauso gut.
👀Ist das enorm,kam jetzt unerwartet.Muss man hören,egal auf was man sonst so steht.Schade dass es kein Vinyl gibt bei der Produktion.