Iotunn - Kinship

Review

Es ist eigentlich eine unglaubliche Geschichte. 2021, mitten in der Pandemie, legt eine, abgesehen von Sänger Jón Aldará (HAMFERÐ, BARREN EARTH), weitgehend unbekannte Band aus Dänemark plötzlich einen kometenhaften Start hin. Auch wir waren begeistert: Wenn der Kollege Klaas, sonst eher zuständig für das richtig obskure Zeug, ein melodisches Death-Metal-Album wie „Access All Worlds“ derart abfeiert, muss wohl etwas dran sein. Wie man so etwas als Band direkt mit dem Einstand hinbekommen kann, verriet uns Gitarrist Jens Nicolai Gräs kürzlich im Interview. Eine ganz andere Frage wurde aber gleichzeitig immer drängender: Kann die Band bei solch einem fulminanten Album-Debüt einen mindestens gleichwertigen Nachfolger erschaffen? „Kinship“ steht kurz vor Release und dürfte wohl für nicht wenige eine der am sehnlichsten erwarteten Platten des Jahres sein.

IOTUNN – Pulver schon verschossen?

Der erste Vorbote „Mistland“ erschien bereits vor über einem Jahr und konnte ehrlicherweise noch nicht für den ganz großen Begeisterungssturm sorgen. Ein schlechter Vorbote für „Kinship“? Haben die Gräs-Brüder ihr Pulver bereits verschossen? Diese Gedanken spukten definitiv vor dem ersten Hördurchgang durch den Kopf des Rezensenten. Dann begannen die ersten Töne von „Kinship Elegiac“ und es wurde innerhalb der folgenden gut 13 Minuten klar, dass das Gegenteil der Fall ist und sich hier vielmehr großes ankündigt. Dabei ist es mindestens mutig, das überlange Herzstück einer Platte direkt an den Anfang zu stellen. Das Ergebnis spricht dennoch für sich, denn der extrem gut durchdachte Fluss der einzelnen Stücke ist nur eines der vielen Highlights auf „Kinship“.

Nachdem der Quasi-Titelsong den Hörer bereits in den Olymp des melodischen Metals befördert (diese Soli, dieser unfassbare Gesang), macht auch „Mistland“ plötzlich absolut Sinn, der für die notwendige Erdung sorgt, obwohl eigentlich kaum weniger episch als sein Vorgänger, aber mit seinem schnellen Mittelteil auch ordentlich auf die Zwölf abzielend. Direkt danach lässt „Twilight“ wieder sämtliche Kinnladen herunterklappen. Es ist einfach unverständlich, wie man solche Melodien praktisch aus dem Ärmel Schütteln kann. Wer am Ende nicht aus voller Kehle „Twilight – Hope Flies Free“ mit schmettert, hat definitiv die Kontrolle über sein Leben verloren.

Wie clean gespielte, atmosphärische Intros gehen, ohne dabei nach Post-Metal zu klingen, beweist „I Feel The Night“ gleich zu Beginn eindrucksvoll und sorgt dabei nicht nur sofort für die nächste Gänsehaut, sondern demonstriert auch die hervorragende Dynamik von „Kinship“. Denn, immer nur auf ganz große Melodiebögen und Heldentenor setzen würde sich viel zu schnell abnutzen, wenn nicht richtig dosiert. Entsprechend gekonnt sind Kontrapunkte, wie das fast komplett akustisch gehaltene „Iridescent Way“, gesetzt und sorgen dafür, dass die Euphorie innerhalb der fast 70 (!) Minuten Spielzeit einfach nicht abreißen will.

Packt nicht nur beim ersten Hören: „Kinship“

Auch in Sachen Halbwertszeit stimmt hier wirklich alles. Sei es die komplexe, fast schon philosophisch angehauchte Hintergrundgeschichte über den Angehörigen eines prähistorischen Stammes, die nebenbei viele grundlegende Fragen aus Natur, Kultur oder Menschlichkeit behandelt, das detailreiche Artwork oder natürlich die abwechslungsreichen Songs selbst: Hier gibt es so viel zu entdecken, dass man über Wochen, wenn nicht Monate beschäftigt ist und die Platte einen gerade nach kurzer Abstinenz noch einmal stärker packt als zuvor.

A propos Zeit: Als Hörer merkt man praktisch in jedem Moment, dass IOTUNN sich selbst immer mehrere Jahre voraus sind und damit den Songs extrem viel Zeit geben können zu wachsen, was sich am Ende in der hohen Qualität des Songwritings auszahlt. IOTUNN schaffen es folglich noch besser, völlig ohne Scheuklappen sämtliche Bereiche des Metal auszuloten und so stimmig in einen eigenen Sound zu verpacken, wie es wohl nur die allerwenigsten Kapellen auf ihrem zweiten Longplayer schaffen, wenn überhaupt. Prog, Power Metal (die klassische Variante, nicht der klebrige Zuckerkram, der sich heute selbst so bezeichnet), Death Metal und sogar Black Metal finden sich praktisch über die gesamte Spielzeit vor allem in den Riffs wieder, ohne sich je gegenseitig im Weg zu stehen.

Fast schon gemein bei all dieser Lobhudelei: Die Leistung von Jón Aldará ist kaum noch erwähnenswert, da man irgendwie fast schon erwartet, dass der Mann seine ohnehin immer schon extrem starke Leistung wieder einmal toppen kann, was hier auch definitiv der Fall ist.

Lassen kaum mehr Luft nach oben: IOTUNN

Alle Befürchtungen können sofort über Bord geworfen werden, denn die neue IOTUNN ist nicht nur ihrem Vorgänger ebenbürtig, sie packt in allen Bereichen noch einmal ein ordentliches Pfund drauf, so unglaublich das klingt. Ja, die Produktion ist fett und damit auch relativ modern, aber eben genau das, was die Epik des Materials erfordert. Dabei verlieren sich IOTUNN keinesfalls im übertriebenen Spuren-Wahnsinns eines gewissen Herren aus Finnland (WINTERSUN). Hier spielen Gitarren und Gesang die Hauptrolle, alle anderen Elemente unterstützen die Basiszutaten, wenn auch gewaltig. Oder, um es mit dem Statement von BORKNAGAR-Gitarrist Øystein G. Brun auf den Punkt zu bringen: „Music bigger than life, music beyond this world.“ Recht hat der Mann!

Viel zu schreiben bleibt am Ende eigentlich nicht mehr außer, dass es schwer vorstellbar ist, wie man diese Art von Musik noch besser machen könnte. Klar, man könnte jetzt damit kommen, dass ja noch Luft nach oben bleiben müsse, aber ganz ehrlich: „Kinship“ verdient nichts anderes als die Höchstnote.

19.10.2024

"Time doesn't heal - it only makes you forget." (Ghost Brigade)

Exit mobile version