iamthemorning - The Bell
Review
Gleb Kolyadin veröffentlichte letztes Jahr ein viel beachtetes Solo-Werk unter seinem eigenen Namen und unter Beteilung von Hochkarätern wie Gavin Harrison, Steve Hogarth und sogar Jordan Rudess, aber das hält den russischen Klaviermaestro nicht davon ab, sich auch seiner Kollaboration mit Marjana Semkina namens IAMTHEMORNING zu widmen und sein Talent für dessen etwas poppigere Spielweise zur Verfügung zu stellen. Wobei „poppig“ in diesem Falle natürlich relativ ist. Wer die Band kennt, zum Beispiel von ihrem letzten Album „Lighthouse“, weiß, dass das Duo im stark von klassischer Musik beeinflussten Art Pop im Fahrwasser von Tori Amos oder Regina Spektor unterwegs ist, der gerne mal kleinere Ausflüge in Folk-Gefilde unternimmt.
IAMTHEMORNING läuten „The Bell“ zur kammermusikalischen Geschichtsstunde
Und das trifft auch auf das hier vorliegende, neue Album „The Bell“ zu. Die Scheuklappen dürfen natürlich trotz allem guten Gewissens abgelegt werden, denn IAMTHEMORNING schaffen eine unglaublich intensive Stimmung, ohne mit Symphonic-Bombast zu dick aufzutragen. Kolyadins Klavierspiel ist pointiert und präzise, bleibt aber immer auf dem Boden verhaftet. Selbst die zahlreichen Gastmusiker, zu denen auch das Sankt Petersburg Orchester „1703“ gehört, halten sich meist subtil im Hintergrund und weben eher einen sanften Teppich für Semkinas sanfte Stimme, anstatt mit dem Symphonic-Metal-Rasenmäher über die Songs drüber zu rattern. Dadurch bekommt „The Bell“ geradezu kammermusikalische Charakterzüge.
Apropos Semkina: Ihre klare Stimme steht wie auch das Konzept hinter „The Bell“ im Mittelpunkt des Geschehens. Inhaltlich ist das durch den Mensch verursachte Leiden und der persönliche Umgang Betroffener mit besagtem Leiden Kern der Songs, die durch dieses zentrale Thema lose zusammengehalten werden. Die Thematik ist in ein historisches Gewand gehüllt, wobei die Band ihre Inspiration vornehmlich aus vitkorianischen Epoche bezieht. Doch analog zu den früheren VERSENGOLD dient das historische Szenario als glaubhafte Kulisse für Inhalte, die jederzeit relevant, greifbar und nachvollziehbar bleiben, nicht umgekehrt. Wobei IAMTHEMORNING im Gegensatz zu besagten Bremern melancholischer, ernsthafter, vor allem aber eben: klassischer unterwegs sind.
Intensive, melancholische Klangromantik aus Russland
Das Duo verlässt sich dabei auf die emotionale Durchschlagskraft der romantisch eingefärbten Melodien. Abwechslung wird natürlich dennoch geboten. Der Opener „Freak Show“ ist mit zum Teil treibendem Schlagzeug noch vergleichsweise peppig unterwegs, ebenso wie das folkige „Ghost Of A Story“, das fast ein bisschen beschwingt daher kommt. Unterdessen gönnt sich die Band bei „Salute“ einen rockigen, beinahe bombastischen Abgang. Dagegen geht „Sleeping Beauty“ schon mehr unter die Haut. „Blue Sea“ schafft das ebenfalls, verstärkt durch das passend zum Titel wie Wassertropfen perlende Klavierspiel Kolyadins. Seine Virtuosität stellt der klassische ausgebildete Pianist am eindrucksvollsten in „Lilies“ zur Schau, jedoch wiederum ohne seiner Kollegin die Show zu stehlen.
Bei „The Bell“ passt im Grunde alles: Semkinas klare Stimme wird jederzeit gekonnt in ein feinssinig geflochtenes Klanggewand eingebettet und kommt so jederzeit elegant und ansprechend herüber. Kolyadins Virtuosität dient stets den Stücken und verliert sich zu keinem Zeitpunkt in selbstgefälliger Masturbation. Und der Bombast nimmt nie überhand, auch wenn die Band der Abwechslung wegen gerne mal etwas größer aufspielt. Dadurch bleibt die Musik jederzeit zugänglich und angenehm subtil. Rein musikalisch bewegen sich IAMTHEMORNING natürlich nicht zu weit weg von ihrer etablierten, musikalischen Marke. Vielmehr haben sie diese ungemein verfeinert und mit „The Bell“ ein mitreißendes, stimmungsvolles und intensives Album geschaffen.