Unter "Blast From The Past" erscheinen jeden Mittwoch Reviews zu Alben, die wir bislang nicht ausreichend gewürdigt haben. Hier gibt es alle bisher erschienenen Blast-From-The-Past-Reviews.
Die Entstehungsumstände von „Live Through This“ sind bemerkenswert. Courtney Love, die Bandchefin von HOLE ist schwanger, als sie im Frühjahr 1992 damit beginnt, die Songs für das zweite Album ihrer Band zu schreiben. Der Vater des Kindes, ihr Ehemann Kurt Cobain, ist wenige Monate zuvor mit seiner Band NIRVANA zum bekanntesten Musiker des Planeten geworden.
Im September 1991 – eine Woche vor „Nevermind“ – war „Pretty On The Inside“ erschienen, das Debüt von HOLE. Aus heutiger Sicht ist der Krach nicht gut gealtert, avanchiert damals aber innerhalb kürzester Zeit zum Kritikerliebling und verschafft der Band aus L.A. eine gute Reputation innerhalb der alternativen Punk- und Noise-Rock-Szene. Dass SONIC YOUTH-Frontfrau Kim Gordon die Produktion betreut und ebenfalls die Werbetrommel rührt, sorgt für einen kommerziellen Achtungserfolg.
Für den Nachfolger gibt Love allerdings das Ziel aus, die Musik mainstreamtauglicher zu machen. Ein Plan, welcher der Hälfte der Band sauer aufstößt. Schlagzeugerin Caroline Rue und Bassistin Jill Emery verlassen die Band im März 1992 nach einer letzten gemeinsamen Tour. Neben Courtney Love bleibt Gitarrist Eric Erlandson zurück, der seit der ersten gemeinsamen Probe von der Energie der Musikerin infiziert ist.
Zwischen Radau und Radio-Rock
HOLE sollen professioneller werden, die Musik radiotauglicher. Die Suche nach einer neuen Bassistin geht Courtney Love zunächst jedoch mit der ihr eigenen Fuck-Off-Attitüde an. „Ich will eine, die ganz gut spielen kann, vor 30.000 Leuten auf der Bühne stehen und ihr Shirt ausziehen kann, ‚Fuck You‘ auf die Titten geschrieben“, inseriert sie. Eine Bassistin finden HOLE dadurch zwar nicht, aber im April 1992 stößt Schlagzeugerin Patty Schemel zur Band.
Während NIRVANA immer erfolgreicher werden und um die Welt touren, treten HOLE auf der Stelle, rücken zunehmend in den Schatten der Band von Courtneys Ehemann. Anstatt über die Musik von HOLE zu schreiben, schießt die Presse sich auf Courtneys Privatleben ein. Im September 1992, kurz nach der Geburt ihrer Tochter Frances, gibt das Love-Cobain-Paar dem Druck der Medien nach und steht dem Magazin Vanity Fair für ein Porträt zur Verfügung.
Das Ehepaar ist heroinabhängig und die Story suggeriert, Courtney hätte auch während der Schwangerschaft ihrer Sucht nachgegeben, was schließlich dazu führt, dass das Jugendamt ihr kurzzeitig das Sorgerecht entzieht. Der Artikel stört außerdem die Beziehung zwischen Courtney und Kurt nachhaltig, erklärt die HOLE-Frontfrau später.
HOLE im Schatten von NIRVANA
Das nächste Lebenszeichen der Band ist jedoch eine Liebeserklärung von Courtney an Kurt. Die im April 1993 erscheinende Single „Beautiful Son“ ist Kurt Cobain gewidmet, eines seiner Kinderfotos ziert das Cover. Das Hauptriff des Songs selbst erinnert an „Smells Like Teen Spirit“, den Hit, der NIRVANA weltberühmt machte.
Dass Kurt Cobain seiner Ehefrau beim Songwriting unter die Arme greift, macht als hartnäckiges Gerücht die Runde, entspricht aber nicht der Wahrheit. Cobains einziger Credit für HOLE ist der Song „Old Age“ auf der B-Seite von „Beautiful Son“. Die Musik auf „Live Through This“ stammt komplett aus der Feder von Courtney Love und Eric Erlandson, wie alle Beteiligten bestätigen.
Da das neue Album von Courtney Love aufgrund ihrer Ehe mit Kurt Cobain wahrscheinlich sehr viele Abnehmer finden wird, umschwärmen die großen Labels HOLE, um sie aus ihrem Vertrag mit dem Indie-Label Caroline rauszukaufen. Den Zuschlag erhalten Geffen Records, beziehungsweise deren Sub-Label DGC Records. Sieben Alben sollen HOLE liefern, es gibt eine Million Dollar Vorschuss.
„Live Through This“ – aufgenommen im Rausch
Im Oktober 1993 beginnen endlich die Aufnahmen für „Live Through This“. Als Bassistin ist inzwischen Kristen Pfaff mit an Bord, die ihre Band JANITOR JOE verlassen hat und aus Minnesota an die Westküste gezogen ist. Für sie geht es direkt weiter nach Georgia, wo sich das Studio befindet. Empfohlen wurde es von SMASHING PUMPKINS-Chef Billy Corgan, mit dem Courtney Love vor ihrer Beziehung mit Kurt Cobain kurzzeitig zusammen war. Die Kürbis-Schläger hatten dort ihr Zweitwerk „Siamese Dream“ aufgenommen, das der Band den Durchbruch bescherte. HOLE soll es nun genauso gelingen.
Dabei ist die Band bereits in aller Munde. Besser gesagt ist es Courtney Love. Während sie in Georgia „Live Through This“ aufnimmt und Ehemann Kurt mit seinem neuen Album „In Utero“ auf Tour ist, kümmern sich Kindermädchen und Verwandte um Tochter Frances, was vor allem der abwesenden Mutter zum Vorwurf gemacht und in der Klatschpresse hemmungslos ausgebreitet wird.
„Live Through This“ wird gerade auch deswegen zu einem Ventil, aus dem Courtney Love den Frust und die Wut der vergangenen Monate rauslässt. Das Album ist sauber produzierter Alternative Rock, gerade noch anarchisch genug klingend, um bei der Masse als Musik von der Straße wahrgenommen zu werden. Außerdem zeigen sich HOLE als ausgesprochen vielseitige Band. Wie viele andere Bands, die in die damalige Grunge-Welle geworfen werden, mäandern sie zwischen ausgefeiltem Radio-Rock, eingängigen Punk-Songs und improvisiert wirkenden Noise-Nummern. Zwischendrin ein Cover des YOUNG MARBLE GIANTS-Song „Credit In The Straight World“. Zwar klingt „Live Through This“ tatsächlich deutlich bekömmlicher als der kultivierte Krach auf „Pretty On The Inside“, strotzt aber dennoch vor rauer Energie, bei der gleichzeitig bittere Melancholie mitschwingt.
Wut und Melancholie
Der mitreißende Opener „Violet“ bringt dies perfekt auf den Punkt. In ihm verarbeitet Courtney das frustrierende Ende ihrer Beziehung mit Billy Corgan. Der Song beschreibt, wie schnell Liebe und Zuneigung nachlassen können, wenn erst einmal die bloße Geilheit des Mannes befriedigt ist. Da hilft nur die Flucht nach vorne, ausgedrückt in aggressiver Gleichgültigkeit:
„Go on, take everything, take everything, I want you to
Go on, take everything, take everything, I dare you to“.
Drogen sind im Studio allgegenwärtig. Vor allem die Neueinsteiger Kristen Pfaff und Patty Schemel brauchen Stoff, um ihren neuen Status als Rockstars zu verarbeiten. Courtney hat damit schon einige Erfahrungen gemacht und den Song „Miss World“ geschrieben, der sich mit dem Thema Drogenmissbrauch auseinandersetzt. Kristen ergänzt die Lyrics um zwei Zeilen:
„I’ve made my Bed, I’ll lie in it
I’ve made my Bed, I’ll die in it“.
Hinter beinahe jedem Song auf „Live Through This“ steckt eine persönliche Geschichte. Die Themen, die auf dem Album angesprochen werden, haben jedoch eine größere Relevanz. „Asking For It“ ist inspiriert von einer Situation, in der Courtney beim Crowdsurfen ihre Kleidung vom Leib gerissen bekam, widmet sich aber zynisch der ältesten Ausrede aller Vergewaltiger.
Die Welt ist schlecht – oder?
Gewalt gegen Frauen, Drogenmissbrauch, der tote Traum vom Rockstar-Leben, generelle Wut auf die kaputte Gesellschaft – „Live Through This“ ist weit davon entfernt, ein fröhliches Album zu sein. Zu dem ganzen Mist kommen schließlich auch noch ganz persönliche Schicksalsschläge. „I Think That I Would Die“ ist der verzweifelte Ruf einer Mutter, die ihr Kind nicht mehr sehen darf, tief in ihrem Innern aber auch weiß, dass sie es selbst verbockt hat. Trotzdem schimmert auf dem Album immer wieder Hoffnung durch, versprüht es doch trotzige Kraft.
„Doll Parts“ beschreibt Courtneys Gefühle, als sie sich in Kurt Cobain verliebte. Der Song ist das Schwesterstück zum NIRVANA-Song „Heart Shaped Box“. Sie hatte ihm, nachdem ihr erstes Treffen nicht so gut verlaufen war, eine herzförmige Schachtel geschickt, in der unter anderem eine Porzellanpuppe enthalten war. Warum?
„He only loves those things,
because he loves to see them break“
Der Blick in den Abgrund
An Halloween 1993 sind HOLE mit den Aufnahmen fertig und gehen für einige Tage auf Tour. Danach macht die Band für einige Monate Pause, bevor es im Frühjahr 1994 auf große Promo-Tour zu „Live Through This“ gehen soll. Doch dazu kommt es nicht.
Eine Woche vor Release, am 05. April 1994, begeht Kurt Cobain Selbstmord. Während die ersten Exemplare von „Live Through This“ verkauft werden, trauert Courtney in ihrem Haus mit Freunden, Verwandten und auch einigen Fans. Auf einer öffentlichen Trauerveranstaltung verschenkt sie Kleidungsstücke von Kurt als Andenken und veranlasst seine Einäscherung.
HOLE stehen kurzzeitig still, sind vom Tod des NIRVANA-Frontmann und Ehemann Courtneys geschockt. Kristen Pfaff, die kurz zuvor erfolgreich einen Entzug hinter sich gebracht hat, wird rückfällig und stirbt am 16. Juni 1994 an einer Überdosis.
Trotz dieser Schicksalsschläge entscheidet Courtney jedoch, dass es weitergehen muss. Am 1. August 1994 treten HOLE schließlich wieder auf und gehen für den Rest des Jahres auf eine ausgedehnte Tour. Die Boulevard-Presse ist sich einig, dass es zu früh ist, zu taktlos. Verwitwet und ein kleines Kind zuhause? Wie kann sie nur?
Hört man sich „Live Through This“ an, bleibt jedoch die Gegenfrage: Wie könnte sie nicht?
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