Helloween - Better Than Raw

Review

Wir schreiben das Jahr 1998: Die Fußball-WM war omnipräsent. In diesem Jahr würde The Legend of Zelda: Ocarina of Time erscheinen und Nintendo-Konsolen in Brand setzen. Eine für die Zukunft bestimmt total unwichtige Sache namens „Internet“, glühte so langsam auf den Röhrenmonitoren der Büros auf. Ein Jahr später, würden Kinobesucher mit „Star Wars: Episode 1“ eine kalte Dusche bekommen. Zudem standen die Pokémon kurz davor, die Kinderzimmer der Nation zu erobern. Wenn man zurückblickt, machten Medien und Entertainment in den 90er-Jahren gleich mehrere Revolutionen durch – doch ausgerechnet für die Musik waren sie eine Katastrophe. Der Seattle-Sound hatte den Metal an die Grenze der Vernichtung gebracht und war das Karriereende für viele hervorragende Bands. Es wunderte also nicht, dass mit HELLOWEEN und IRON MAIDEN, gleich zwei strauchelnde Metal-Dinos um ihr Überleben kämpften. Besonders weil die Sänger beider Bands nur als „Ersatz“ für ihre vergötterten Vorgänger gesehen wurden, war die Virtual-XI-Tour nur so-lala besucht. Eine Schande. Denn besonders die Vorband HELLOWEEN hatte etwas Wunderbares im Gepäck.

HELLOWEEN – die Zerreißprobe

Die Hamburger Kürbisköppe hatten mit Sänger Andi Deris etwas geschafft, was im Grunde unmöglich war: Man brachte es fertig sich trotz eines etablierten Namens komplett neu zu erfinden. Der Weggang von Michael Kiske war im Grunde das sichere Ende. Einzig und alleine die hohe Qualität des Comeback-Albums „Master Of The Rings“ (1994), ermöglichte es der Band sehr viel an verlorenen Boden wieder gut zu machen. Der Vorgänger „Chameleon“ (1993) wurde nämlich von Kritik und Publikum fast universell verissen und ließ die Hamburger regelrecht implodieren. Durch „The Time Of The Oath“ (1996) wurde verdeutlicht, dass dies kein Glückstreffer war und man Großes von HELLOWEEN erwarten konnte. Doch besonders in diesen Jahren geschahen die wohl gravierendsten Veränderungen in der Musikszene.

Vorbei war die Zeit der Gitarrensolos und gut geschriebenen Songs. Leute, die gute Musiker und Songwriter waren, wurden verlacht und galten als „cringe“. Alles musste postmodern, ironisch und nihilistisch sein. Wer sich nicht in die Welt der Flanelhemden, Depressionen und pubertären Lyrics einfinden konnte, war schnell weg vom Fenster. Härtere Gitarrenmusik wurde von NINE INCH NAILS, MARILYN MANSON und KORN dominiert. Der Rest schmiss Pillen auf Raves oder ging im Post-Grunge Sumpf unter. Das Klima hätte also nicht schlechter für HELLOWEEN sein können. Wie reagiert man also, wenn man erneut mit dem Rücken zur Wand steht? Ganz einfach.

Mit einem Gegenangriff, der sich gewaschen hat.

Uli Kusch: Der heimliche Star auf „Better Than Raw“

„Delibiratly Limited Preliminary Prelude in Z“ hat nicht nur einen witzigen Titel, sondern leitet das Album mit seinen pseudo-orchestralen Sounds, ideal ein. Obwohl Drummer Uli Kusch sehr gerne Keyboards benutzt, lässt er das Intro direkt in „Push“ übergehen. Hier hat er einen Song serviert, der wahrhaftige Painkiller-Vibes versprüht und eine ganze Ecke härter als gewohnt ist. Kusch ist tatsächlich auch der Songwriter, der dem Album seine besondere Würze gibt. Mit „Revelation“ lässt er nämlich auch veritable Power Metal-Muffel aufhorchen. Hier verarbeitet der Schlagzeuger seine Liebe für MESHUGGAH und „Destroy Erase Improve“. Seine Beiträge lassen sich als Power Metal für diejenigen bezeichnen, die diesen Stil eigentlich nicht mögen. Von daher sind seine Leistung und Performance besonders hervorzuheben.

Auch Andi Deris läuft hier zu absoluten Hochleistungen auf. Wenn das von ihm geschriebene „Hey Lord!“ 10 Jahre zuvor veröffentlicht worden wäre, wäre es ein internationaler Nummer-1-Hit gewesen. Die kommerziellen Zeichen standen 1998 allerdings nicht auf BON JOVI-artige Hymnen mit großen Hooks. Auch auf „Time“ setzt sich der Karlsruher ein Denkmal. Der Fan bekommt einen modern klingenden Rocksong mit PINK FLOYD Gedächtnissolo kredenzt und kann sich an einer herrlichen Atmosphäre erfreuen. An Quasi-Bandleader Michael Weikath scheiden sich allerdings auch auf „Better Than Raw“ die Geister. Seine Stücke sind nämlich entweder Hit oder Miss. Fakt ist, dass sich der typische Baller-Metal der Marke HELLOWEEN niemals besser als auf „Falling Higher“ angehört hat. „Laudate Dominom“ klingt hingegen trotz seines latenischen Textes zu gewöhnlich. Der Kontrast zu den Stücken Uli Kuschs ist aufgrund der Kindergartenmelodien einfach zu groß.

Süßes oder Saures?

HELLOWEEN veröffentlichten nach „Better Than Raw“ das ebenfalls fantastische Album „The Dark Ride“ und erschufen somit einen weiteren All-Time-Klassiker. Leider markierte diese Scheibe das Ende der Glückssträhne, die die Band von 1994 bis 2000 genießen durfte. Uli Kusch und Gitarrist Roland Grapow zogen nämlich anschließend von dannen und gründeten MASTERPLAN. Der Weggang der beiden hat sich sofort bemerkbar gemacht, weil HELLOWEEN mit „Rabbit Don’t Come Easy“ (2003) einen (für Bandverhältnisse) Stinker releast hatten.

„Better Than Raw“ ist ein Zeugnis der besten Ära der Band. Es ist zwar klar, dass die „Keeper“-Platten ikonischer sind – doch nichts was die Hamburger sonst so verzapft haben, ist gehaltvoller, vielseitiger und interessanter. Die stilistische Vielfalt des Albums ist mehr als beeindruckend. Old-School Heavy Metal? Check. Radio Rock? Check. Doublebass Geballer? Check. Orchestrale Sounds? Check. Technisches Drumming und Elemente aus dem extremen Metal? Check. Pop? Check. Hier findet sich etwas für jede nur erdenkliche Vorliebe. Der einzige Grund warum es hier keine 10 gibt, ist der Fakt, dass Roland Grapow keinen Song beisteuern durfte.

 

14.08.2024
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