Gentle Giant - Acquiring The Taste

Review

Unter "Blast From The Past" erscheinen jeden Mittwoch Reviews zu Alben, die wir bislang nicht ausreichend gewürdigt haben. Hier gibt es alle bisher erschienenen Blast-From-The-Past-Reviews.

Man kann das Kind ruhig beim Namen nennen: Das Cover des Zweitwerkes „Acquiring The Taste“ der Progressive Rocker GENTLE GIANT sieht nun mal etwas suggestiv aus. Erst ausgeklappt offenbart sich, was auf den ersten Blick wie ein Hintern aussieht, als Pfirsich… also im weiteren Sinne irgendwie doch wieder ein Innuendo. Wenigstens ist man damals noch subtil mit dem Thema umgegangen. Oder „Arschlecken“ hat in den Siebzigern einfach besser geschmeckt. Wer weiß. Aber hier soll es sowieso um die Musik des Werkes gehen. Also von vorn:

GENTLE GIANT waren einer der großen Vertreter des klassischen Progs, der ziemlich genau von 1970 bis 1980 aktiv gewesen ist. Die Band begann wie viele andere ihrer Artgenossen auch beim großen Prog und (ver-)endete im Pop, wobei der Abgesang „Civilian“ immerhin noch amtlich rockte. Doch um den soll es hier nicht gehen. Als Zweitwerk steht „Acquiring The Taste“, erschienen im Juli 1971, felsenfest in der frühen Blütezeit des klassischen britischen Prog der Siebziger. Das vorangegangene, selbstbetitelte Debüt wies zwar schon eine einschlägige Progressivität auf, war aber noch ein Stück weit in der zeitgenössischen Populärmusik verankert.

Musikalische Abenteuer mit GENTLE GIANT

So richtig stellten sich die sanften Riesen erst mit diesem Werk quer. Immerhin galt der dem Booklet zu entnehmende Leitspruch:

„It is our goal to expand the frontiers of contemporary popular music at the risk of being very unpopular. We have recorded each composition with the one thought – that it should be unique, adventurous and fascinating“.

Und dank des unglaublichen, musikalischen Könnens dieser Band gelang das auch. Damit legte „Acquiring The Taste“ in gewisser Weise den Grundstein für das Werk einer der wohl diffizilsten Prog-Bands der Siebziger, die einige polyphon in sich verschachtelte Klangbollwerke erschaffen hat – und dabei doch stets eine gewisse, beschwingte, angesichts der Komplexität der Stücke gar spöttische Leichtigkeit mitbrachte. Das taten sie nicht zuletzt auch durch ihre Live-Shows, bei denen die Musiker zum Teil fliegend mitten im Song die Instrumente wechselten.

„Acquiring The Taste“ liefert diese Leichtigkeit dank seiner rockenden Grooves, die den Hörer praktisch wie von allein mitwippen lassen. Die kommen locker aus der Hüfte von Schlagzeuger Martin Smith gefeuert und pferchen das muntere Geschehen mit ordentlich Freiraum zum Rumwuseln ein. Und diesen Freiraum nehmen sich die Multiinstrumentalisten um die drei Gebrüder Derek, Ray und Phil Shulman auch. Das Ergebnis: Irrsinnig komplexe Musik, die dennoch gut ins Ohr geht und teilweise sogar richtig tanzbar gerät und mit Derek Shulman und Kerry Minnear zwei großartige Sänger im Tandem vorangestellt bekommen hat.

Das Fundament „Acquiring The Taste“

Ein „The House, The Street, The Room“ ist angesichts seiner Struktur natürlich alles andere als ein geradliniger Rocker, doch schon die eröffnenden Töne winden sich um alle möglichen Ecken, passen jedoch hervorragend in diesen wahnsinnig schneidigen Rhythmus rein, der noch mit einer Kirsche in Form einer Cowbell garniert wird. Doch im folgenden scheint der Song förmlich auseinander zu fallen, die ganzen Einzelteile kullern lose herum, um dann mit einem Knall für das wiederum schwer rockende Gitarrensolo wieder zusammen zu finden.

Opulenter gestaltet sich das groovende Rocken bei „Wreck“, das mit seinem Call And Response-Muster entfernt an einen Gospel erinnert. Der Song wird durch einen schweren Groove vorangetrieben, während die Band im Kollektiv auf sämtliche Gesangslinien von Derek Shulman mit „Heyeheh Hold On“ antwortet. Minnear liefert indes im vom Cembalo getragenen Intermezzo eine fast solistische Gesangslinie, die bei späterem Wiederaufgreifen des Motivs durch Blockflöten (oder schicker: Recorder) dargestellt wird.

Geradezu funky wird es im Rausschmeißer „Plain Truth“, der längste und ironischerweise geradlinigste Track der Platte, den die Band jedoch dank vieler zum Teil dissonanter Gemeinheiten interessant ausschmückt. Und natürlich zwängt der mit Inbrunst und Soul vorgetragene, mehrstimmige Gesang, den die Band auf folgenden Alben im übrigen noch komplexer ausbauen würde, den Song ohne Umschweife ins Gehör hinein, während die mit reichlich Wah-Wah versehene Gitarre sexy durch den Track führt.

Geschmackvolle Psychedelik

Auf der anderen Seite stehen dann die psychedelischeren Songs der Platte, die den Verstand wahrhaftig auf eine außerkörperliche Reise schicken. Am prominentesten ist da „Edges Of Twilight“, das Meisterstück des Albums, das den Hörer durch verschiedene, traumartige Sequenzen hindurch führt. Hier kommt vor allem der klassische Einfluss, den Kerry Minnear in den Sound mit hinein gebracht hat, voll zum Tragen. Noch schräger wird es auf dem instrumentalen Titeltrack, der eine leicht taumelnde Charakteristik sein eigen nennt.

Der Opener „Pantagruel’s Nativity“ balanciert Groove mit Atmosphäre gut aus, fast als habe er eine programmatische Aufgabe. Bei „The Moon Is Down“ baut sich ein fast klassisches Psychedelic-Motiv im Schleichtempo zu einem beschwingteren Mittelteil auf, bei dem man den Eindruck bekommt, dass hier die Sonne aufgegangen ist. Das ist im weiteren Sinne natürlich ein Motiv des Textes. Die fast tragische Melodie, die folgt, suggeriert aber einen tieferen Sinn.

„Black Cat“ macht sich den vielschichtigen Sound dann richtig kreativ zu Nutze, indem es musikalisch tatsächlich das nächtlich schleichende Treiben einer Katze beschreibt mit sanftem, elegantem Rhythmus, kurz und präzise gespielten Tönen inklusive Geigen-Pizzicatos und beinahe gehauchtem, wiederum mehrstimmigem Gesang. Der irgendwie perkussive Mittelteil lässt Bilder von den Abenteuern der Samtpfote über Dächer und Zäune im Kopf entstehen, ehe der Song zu seinem Ausgangspunkt zurückkehrt. Ein weiteres schönes Detail sind die Gitarren zum Ende hin, die das Miauen der Katze nachzuahmen scheinen.

GENTLE GIANT sind auf den Geschmack gekommen

Um noch einmal das Zitat von vorhin aufzugreifen:

„It is our goal to expand the frontiers of contemporary popular music at the risk of being very unpopular. We have recorded each composition with the one thought – that it should be unique, adventurous and fascinating“.

Und das ist „Acquiring The Taste“ heute noch: einzigartig, abenteuerlich und faszinierend. Diese letzte Album unter Beteiligung von Schlagzeuger Smith legte den Grundstein für die Experimentierfreude, für die GENTLE GIANT berüchtigt werden sollten. Das wurde mal mehr, mal weniger kompromisslos durchexerziert, wobei sich die Band ihren Hang zu kernigen Grooves beibehalten sollte. Und dann kam spätestens mit „The Missing Piece“ die Wendung zu kommerzielleren Klängen, welche die Band bei „Giant For A Day“ schließlich endgültig im Pop Rock parken sollten.

Doch bleibt das progressive Werk der sanften Riesen wie auch das ihrer Zeitgenossen ein essenzieller Teil des klassischen, britischen Progs. Von ihren komplexeren Alben dürfte „Acquiring The Taste“ tatsächlich das stimmungsvollste sein, aber bei weitem nicht das technischste. Aber das macht es vielleicht auch zu den zugänglicheren Werken von GENTLE GIANT und damit definitiv zur Einstiegsdroge. Wer also in das komplexe Werk der Briten einsteigen, aber nicht gleich erschlagen werden möchte, ist hier goldrichtig. Auch wenn sich der Sound hiernach noch einmal entwickeln sollte…

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14.09.2019

Redakteur für Prog, Death, Grind, Industrial, Rock und albernen Blödsinn.

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