Exquirla - Para Quienes Aún Viven

Review

Gegensätze ziehen sich bekanntlich an, anders kann man die Gründung des Projektes EXQUIRLA kaum erklären. Die spanischen Post-Rocker TOUNDRA fanden nämlich durch Zufall mit ihrem Landsmann Niño de Elche, seines Zeichens Flamenco-Sänger, zusammen, testeten diese Fusion aus perlendem, pulsierendem Post-Rock mit dem Feuer des Flamencos auf ihre Bühnentauglichkeit und sahen unter tosendem Beifall, dass es gut war. Einige Zeit später stand auch schon die Entstehung des hier vorliegenden Debüts „Para Quienes Aún Viven“ fest.

Üblicherweise heben sich elementare Gegensätze auf oder stechen sich aus. Nicht so aber im hypothetischen Reich der Kunst, speziell der Musik, dort, wo die physikalischen Gesetze außer Kraft gesetzt sind. Dieser Umstand erlaubt es EXQUIRLA, diese seltsame Kombination in Einklang zu bringen. Feuer und Wasser feiern ein brüderliches Nebeneinander, die Musik schiebt die Rivalität der beiden beiseite für 55 Minuten (Post-)Rock-Magie, die mit dem extra-Quäntchen spanischer Kultur daher kommt.

EXQUIRLA bringen Feuer und Wasser in Einklang

Was EXQUIRLA hier gelingt, dürfte auf dem Papier eigentlich gar nicht funktionieren. Dieses waghalsige Unterfangen schreit förmlich danach, ein „Lulu„-Desaster zu werden. Man möchte meinen, dass der feurige Flamenco sich in den weitläufigen Klanglandschaften des schwelgerischen Post-Rock verirrt. Hier treffen zwei höchst unterschiedliche, musikalische Ausdrucksformen von Leidenschaft aufeinander. Und doch ist es den Beteiligten gelungen, hieraus ein spannendes Klanggeflecht zu weben.

TOUNDRA lassen ihren emotionalen Rock immerzu an- und abschwellen, auch mal zu gegebener Zeit explodieren oder einfach nur friedlich dahin fließen. „Hijos De La Rabia“ zum Beispiel beginnt mit dem perkussiven Spiel der Gitarren im triolischen Rhythmus über einem atmosphärischen Synth-Teppich. Das ganze erzeugt Spannung ohne Ende, die dann im folgenden, schwelgerischen Part wunderbar aufgelöst wird. Der Zehminüter „Un Hombre“ schnuppert im letzten Drittel eine seichte, düstere KARNIVOOL-Brise, die wiederum durch regelrecht jubilierende Gitarren aufgelöst wird. Das ist dramaturgischer Rock in Perfektion, von dem sich so manch andere Band ein Scheibchen abschneiden darf. Und erst der Sound: warm, transparent, organisch und doch kraftvoll.

Und genau hier kommt Niño de Elche ins Spiel, der das Album mit seiner passionierten Gesangsdarbietung davor bewahrt, in kalkulierte, gestelzte Rock-Poesie abzudriften. Er versucht erst gar nicht, sich an die Musik anzuschmiegen. Stattdessen fordert er den Hörer mit seinem geradezu kontrapunktierenden Gesang heraus. Selbst in den hymnischen Passagen, in denen man normalerweise erwarten würde, dass der Sänger mit lang anhaltenden Tönen den durch erbauliche Melodien erzeugten Auftrieb nutzt, um wie ein Vogel dahinzusegeln, taucht Niño de Elche mit seiner Stimme darunter durch und fliegt darüber hinaus. Denn der einfache Weg ist der falsche Weg. Allein wenn er gelegentlich etwas zu viel Vibrato nutzt, übertreibt er es mit der Dramatik. Das passiert jedoch selten und ist daher kaum mehr als ein unbedeutendes Ärgernis.

Ein Fest für Genießer

Letztlich ist das Experiment „Para Quienes Aún Viven“ aber gelungen. Es bedarf einiger Hördurchläufe, bis man versteht, wie gut Band und Sänger eigentlich aufeinander abgestimmt sind. Halt, nein, eigentlich sind sie es überhaupt nicht. Vielmehr respektieren sie einander und arrangieren sich dadurch. Das Ergebnis ist eines der aufregendsten und interessantesten Alben dieses noch recht jungen Jahres, aber eben auch ein Herausforderndes.

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10.02.2017

Redakteur für Prog, Death, Grind, Industrial, Rock und albernen Blödsinn.

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1 Kommentar zu Exquirla - Para Quienes Aún Viven

  1. ian_tank sagt:

    „Er versucht erst gar nicht, sich an die Musik anzuschmiegen. Stattdessen fordert er den Hörer mit seinem geradezu kontrapunktierenden Gesang heraus. Selbst in den hymnischen Passagen, in denen man normalerweise erwarten würde, dass der Sänger mit lang anhaltenden Tönen den durch erbauliche Melodien erzeugten Auftrieb nutzt, um wie ein Vogel dahinzusegeln, taucht Niño de Elche mit seiner Stimme darunter durch und fliegt darüber hinaus.“

    Sehr schön herausgearbeitet. Nur ist ist dem Autoren anscheinend entgangen, dass – geplant oder nicht – dieses Widerspiel im letzten Track des Albums „Europa muda“ seine überwältigende Auflösung findet.

    Beginnt dieser Song mit dem für das Album so typischen Ringen beider Parteien um die Prägungshoheit über die Komposition, so fährt etwa in der Mitte des Tracks die Instrumentalfraktion den Track total herunter. Auf mich wirkt dies wie ein Friedensangebot an den Sänger, mit dem man sich das ganze Album hindurch darum gestritten und gerungen hatte, welche Seite denn nun die Lieder prägt.

    Und dieser wartet zunächst ab, als höre er sich geduldig an, was ihm angeboten wird. Kurz darauf beginnt er, viel sanfter als zuvor, und ohne jeden akustischen Widerstreit, auf dieses Angebot einzugehen. Was darauf folgt sind die erhebendsten und ergreifendsten Minuten, die mir bisher im Postrock widerfahren sind. Musik und Gesang finden zueinander, fließen ineinander, werden schließlich eins. Das gehört zu den musikalischen Erfahrungen, die man gemacht, erlebt, durchlebt haben muss, bevor man stirbt. Unfassbar emotional und nicht perfekter umsetzbar. Ganz, gang, GANZ groß!

    9/10