Ah ja, wie bereits vermutet ist „Riitiir“ norwegisch für „Rentier“, das Werk eine Ode an die die Taigen und Tundren durchstreifenden Säuger. Nun, Blödelei bei Seite, kommen wir lieber zu dezent ernsteren Themen – etwa der Tatsache, dass die Zeit doch tatsächlich rast. Das wird einem dann etwa bewusst, wenn man feststellt, dass ENSLAVED, die man gefühlt erst vor wenigen Jährchen mit der „Hordanes Land“-Split, „Vikingligr Veldi“, „Frost“ und „Eld“ kennen und schätzen gelernt hatte, mittlerweile mit „Riitiir“ – das sich übrigens tatsächlich mit menschlichen Riten, mit den verblüffenden Gemeinsamkeiten verschiedener alter Kulturen beschäftigt – bereits das zwölfte Langeisen im heimischen Glutofen geschmiedet haben.
Die ungezügelt-kriegerischen und dennoch atmosphärischen Phono-Orgien der 90er-Jahre langsam hinter sich lassend, waren die Fünf aus dem idyllischen Bergen spätestens mit „Monumensium“ zu Beginn des neuen Jahrtausends zu progressiveren Ufern aufgebrochen, mit den 2003er- und 2004er-Werken „Below The Lights“ und „Isa“ hatten sie schließlich neues Land erreicht. Seitdem zeichnet sich der bis heute gegenwärtige Stil zwischen Black Metal und Prog-Rock, geprägt von teils deutlichen Dynamik-Wechseln im Groben ab.
So leben auch alle acht neuen Kompositionen mehr als je zuvor vom Kontrast zwischen den rauen Wütereien Grutle Kjellsons und Herbrand Larsens hellem Gesang, zwischen (Rest-)Aggression und Ohrwurm-verdächtiger Eingängigkeit; alles komplex arrangiert. Beste Beispiele sind das sich am Ende entladende Titellied sowie das relativ rasante „Roots Of The Mountain“ – mit den packendsten sanften Refrains und zugleich einigen der energischsten Ausbrüche, die ENSLAVED auf den letzten drei Platten aufgefahren haben, in direkter Nachbarschaft. Aus Gitarrenschichten, spacigen Effekten sowie verschwindend leisen, gespenstischen Stimmen geformte, in eine andere Dimension führende Szenarien – die ersten drei Minuten von „Storm Of Memories“ – oder ein unbehaglich klingendes, „Forsaken“ durchziehendes Piano geben den Stücken eigene Identitäten.
Dennoch vermisst man bei „Riitiir“ den großen, alles rund machenden Spannungsbogen – schlicht und einfach deshalb, weil nicht einmal zwei, drei Lieder (so einnehmend einige auch für sich genommen sein mögen) Fisch oder Fleisch sind, keines ausschließlich auf die Zwölf donnert oder komplett ruhig gehalten ist. So sind die beiden konträren Stimmungen, die aggressive und die entspannte, mittlerweile so winzigklein portioniert, dass ihr permanentes Alternieren ihnen kaum noch Raum zur Entfaltung lässt. Etwas viel Raum hingegen wird Larsens weichem Organ gewährt, was zusammen mit dem aufgeräumten Klang zu einigen Momenten gefährlich nah an den Kippen des Kitsches führt, an der schon viele Kapellen in fortgeschrittenen Karrierestadien zerschellt sind. Aktuell gelingen den geübten Seefahrern die gewagten Manöver noch, aber man ahnt Schlimmes, sollte die Kraft bald nachlassen, die Ermüdung sie übermannen.
Man kann nicht sagen, dass ENSLAVED zu sehr an Intensität eingebüßt hätten oder dass ihre Entwicklung unnatürlich erscheinen würde. Doch die dichte Urwüchsigkeit und der ruppige Charme, die die frühen Klassiker der Norweger und trotz aller musikalischer Entwicklungen und Experimente gar noch „Below The Lights“ und „Isa“, die Höhepunkte der neueren Band-Phase, auszeichnete, ist über die letzten drei Langeisen größtenteils verschwunden. Grutle und seine Mannen haben den aktiven Kriegsdienst vollends quittiert, ziehen die Schwerter auch auf „Riitiir“ nur ab und an noch einmal aus der Scheide, um den Jüngeren die nicht gerade blutarmen Geschichten von einst möglichst lebensecht nahezubringen. Ansonsten zeigen sie sich erstaunlich sanftmütig und altersmilde; gehen heuer als gute, aber nicht begnadete Erzähler durch – ihr Talent kam stärker zur Geltung, als sie sich noch als wehrhafte Krieger verstanden.
In welchem Song ziehen Enslaved denn die Schwerter aus der Scheide? Ist mir gar nicht aufgefallen. Vielleicht liegts auch einfach daran, dass die Norweger nun Themen behandeln, die dem Rezensenten einfach zu hoch sind. Durchaus begnadet, die Herren, auch wenns nicht jeder versteht. Für solche gibt’s dann halt Riger, Varg und Konsorten. Die drücken sich ähnlich gezwungen geschwülstig wie der gute Christoph aus. Achja, nach dem Meisterwerk „Axioma Ethica Odini“ ein weiterer Kracher!
Ich finde das Album kaum schwächer als den Vorgänger, und zumindest produktionstechnisch sogar noch etwas gelungener. Grutles Vocals wirken gerade durch den Kontrast zu den melodischen Gesängen ziemlich monströs und sorgen vor viel Gänsehaut, das böse, düstere Element würde ohne das melodisch-progressive nicht halb so gut funktionieren und umgekehrt. Die epischen, an Filmsoundtracks angelegten Parts in einigen der Songs sind vollkommen erhaben.
Ich war nach dem ersten anhören auch nicht ganz sicher was ich davon halten soll. Dieses Album braucht einfach Zeit und mehrere durchläufe zur Entfaltung (eben weil es nicht nur stumpfes geballer ist).
Riitiir kommt letzlich für mich zwar nicht an Axioma Ethica Odini dran, aber 9 von 10 Punkten gebe ich bedenkenlos.
Dieses Album ist sicherlich sperriger, aber nichts desto trotz genial. Bisschen mehr verprogter Doom. Das Album öffnet sich nach mehreren Durchgängen und zeigt sich dann in voller Blüte.