Dass wahre Kunst und Musik im Grunde zusammengehören wie der Penis und die Vagina ist heutzutage leider nicht mehr selbstverständlich. Wie bitte? Musik ist doch eigentlich Kunst? Natürlich! Aber wie definiert man diese Kunst? Wie anspruchsvoll ist es, ein Album zu veröffentlichen, das mal wieder nach Band XY klingt oder einem Stil frönt, der bereits bis zum Erbrechen ausgeschlachtet ist?
Machen wir uns nichts vor, ein Großteil der monatlichen Veröffentlichungen in sämtlichen (!) Bereichen der Musik ist ausgelutschter Scheiß mit längst bekannten Ideen und Zutaten; einfach nochmal aufgewärmt und vielleicht anders zusammengesetzt, das war’s dann aber auch! Stets dieselben Instrumente, dieselben Gitarren, dieselben Riffs, nur anders angereiht und mit immer klinischerem Sound aufgemotzt um den dicken Maxe zu machen. Makulatur! Immer extremerer Gesang, zwischen hochmelodisch und noch melodischer oder abgrundtiefem Gegrunze und noch schlimmerem Gekotze. Immer wieder dasselbe? Warum eigentlich? Das soll wahre Kunst sein? Sich an den Ideen anderer Bereichern und diese nur marginal zu variieren? Fraglich!
Den EINSTÜRZENDEn NEUBAUTEN kann man oben genannte Kritik definitiv nicht vorwerfen! Konnte man noch nie! Kaum eine andere Band auf unserem Planeten verkörpert den Begriff Kunst mehr als diese Berliner Formation, denn sie agieren abseits von gängigen Strukturen und jenseits von Massenkompatibilität. Sie machen einfach das, was sie wollen ohne nach links oder rechts zu schielen. Angefangen bei der Instrumentierung, die im Grunde nicht viel mit dem Standard Gitarre, Bass und Schlagzeug zu tun hat. Zwar werden Anteile genannter Instrumente hier und da benutzt, jedoch bilden sie nicht das Grundgerüst oder einen unausweichlichen Anteil bei den EINSTÜRZENDEn NEUBAUTEN.
Selbstbau ist das Stichwort in Sachen Instrumente, wovon man sich besonders Live ein wahrlich beeindruckendes Bild machen kann. Da werden zum Beispiel mit Druckluft, die durch meterlange Rohre geblasen wird, schwebende Basstöne erzeugt, auf großen Blechen peitschende Schlaggeräusche fabriziert und mit kleinen Eisenstangen, die harmonisch aufeinander abgestimmt sind, melodische Klänge erzeugt. Hinzu kommt der eigenwillige Sprechgesang von Blixa Bargeld, der immer wieder besonders durch die höchst intelligenten und ebenso vorgetragenen Texte brilliert. Mehr geballter Anspruch geht kaum! Einmalig!
Auch „Alles Wieder Offen“ ist kein Album, das man mal eben so zwischendurch hören kann. Zur Hintergrundberieselung ist die Musik definitiv ungeeignet! Man muss achtsam sein und richtig zuhören. Hören und denken, verstehen und erleben; das sind die Schlagworte, die mir dazu einfallen.
Einzelne Songs herauszuheben wäre ein sinnloses unterfangen, denn es gilt jedes Lied für sich zu entdecken und dann im Endeffekt das Ganze als Album zusammenzusetzen.
Erstaunlich dabei ist nach wie vor die Dynamik, welche die Musik der EINSTÜRZENDEn NEUBAUTEN innehat. Jedes Lied besitzt eine regelrechte Dramaturgie, die sich erst im Laufe der jeweiligen Spielzeit offenbart. Ich kann selbst nicht genau definieren (was vermutlich auch so sein soll), ob nun die Musik selbst oder der Gesang, bzw. die Lyrik im Vordergrund steht, denn alles zusammen ergibt erst das komplette Ganze. Zum einen unterstützt die Musik den textlichen Fluss und die wohl gewählten Worte, andersherum erhebt sich der Gesang entsprechend der Lautstärke, bzw. der Fülle der Musik. Alles ist absolut passend auseinander abgestimmt und ergibt eine funktionierende atmosphärische Dichte. Das ist wahre Kunst! Wirklich beeindruckend!
Letztendlich lässt sich über Geschmack nicht (!) streiten, denn entweder hat man ihn oder nicht! Entweder mag man die EINSTÜRZENDEn NEUBAUTEN oder eben nicht. Entweder ist man aufgeschlossen genug, um Kunst entdecken zu wollen und bereit, sich abseits gängiger Normen zu bewegen oder man bleibt lieber in seinem sicheren Rahmen und hört lieber das, was man eh schon seit Jahren hört. Bleibt zu guter Letzt also nur noch eine Frage offen: Bist du eigentlich aufgeschlossen genug?
Und wieder einmal müssen die EINSTÜRZENDEN NEUBAUTEN als Musterbeispiel für unkonventionelle Musik herhalten. Warum? Sicher, als sie 1980 anfingen, war das reichlich abstrakt. Doch die Hörgewohnheiten der Massen, deren Plattheit hier so ausgiebig kritisiert wird, wurden auch gerade u.A. von besagten EINSTÜRZENDEN NEUBAUTEN verändert. Da diese sich mangels Mitstreiter im Genre (oder warum auch immer) außerdem in immer seichtere und eingängigere Gefilde zurückzogen, sind die EINSTÜRZENDEN NEUBAUTEN mittlerweile durchaus als Pop zu bezeichnen (wenn auch ganz sicher kein per se schlechter oder gar platter!). Die hier so verteufelten Normen, denen sich auch die EINSTÜRZENDEN NEUBAUTEN nicht entziehen (können oder gar wollen?), sind also schlicht und ergreifend andere als die, die normalerweise im Metal angelegt werden – Pop mit ein bisschen Anspruch und Industrialattitüde eben. Besser: Pop-Kunst, das ist zumindest der Anspruch, der dahinter steht. Und wer käme auf die abstruse Idee, Kunst mit Unterhaltungsmusik, zu der auch ein Großteil des erwähnten "ausgelutschte[n] Scheiß" gehört, zu vergleichen? [keine Wertung]
Ein gutes, ein sehr gutes, weil einfühlsames und wirklich voller Interesse steckendes Review. Denn eines ist klar; man muss sich auf diese Kunstform einlassen, wenn man verstehen will. Das geht nur, wenn man hinhört. Zum Nebenherhören taugt das Opus nicht. Es will entdeckt werden, ähnlich NEGURA BUNGET auf schwarzer Ebene, TRANSMISSION0 im Post-Bereich oder ASPHYX im Death-Sektor erschließt sich die Kunst erst, nachdem Abwehrhaltung, Irritation und Widerwille überwunden sind. Das kann erst nach dem 23. Hören geschehen. Wer jedoch von euch hört hier schon etwas 23 Male? Eben. Schade.