Dream Theater - Distance Over Time

Review

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Es wird sicher nicht wenige Fans von DREAM THEATER freuen, dass die Band die Rockoper als solche fürs erste als das Experiment, das sie nun mal war, ad acta gelegt hat. Stattdessen haben sich die New Yorker gemeinsam aufs Land zurückgezogen, um das neue Album „Distance Over Time“ in gemeinschaftlichem Umfeld aufzunehmen und dabei möglichst die Bände zwischen den Musikern zu stärken, während zusammen gelebt, abwechselnd gekocht/gegrillt und – natürlich – gejammt wird, bis die Fingerkuppen abfallen. Sprich: Schön locker durch die Hose atmen.

Das Leben in der Prog-Metal-WG?

Zugegeben ist der Entstehungshintergrund der neuen Platte nicht der Spannendste und dürfte letzten Endes über die Zeit hinweg allein für die Bandmitglieder und die Erinnerungen, die sie an den Schaffensprozess haben, relevant sein. Das Ganze liest sich in etwa so wie der rosige Alltag in einer perfekt funktionalen Studenten-WG, utopisch zwar (und gemäß Presseinfo DREAM THEATER-typisch vermutlich unter Vernachlässigung sämtlicher Momente des Zweifelns geschweige denn Scheiterns nacherzählt), aber auch nichts Weltbewegendes.

Aber diese Geschichte liefert den hinreichend glaubhaften Kontext für ein Album, das nach langer Zeit mal wieder klingt, als hätten die Jungs beim Musizieren richtig Spaß gehabt. Der alte Unkenruf „Die Spielen ja kaum noch Prog“ wurde ja spätestens seit dem selbstbetitelten Album zur selbsterfüllenden Prophezeiung, während „The Astonishing“ diesen im Interesse einer cheesy Rockoper gänzlich über Bord geworfen hat. „Distance Over Time“ bringt die alten Tage von „Awake“ oder „Metropolis Pt. 2“ zwar auch nicht zurück, das hält die New Yorker aber nicht davon ab, der Konkurrenz mal wieder zu zeigen, was dieser alte Haudegen des Frickel-Metal noch so auf dem Kasten hat.

Mit wiedergefundener Finesse und neu erlangter Stärke

Wie sich herausstellen sollte: Immer noch genug, um Kapellen wie AVANTASIA und KAMELOT knallhart in die Schranken zu weisen und zu sagen: Wenn schon – pardon! – Narzissten-Metal, dann doch bitte mit Eiern wie hier auf „Distance Over Time“! Das ist gar nicht mal negativ gemeint, denn wenn es jemals eine Band gegeben hat, welche die große, musikalische Geste per se zu einer Kunstform gemacht hat, dann wohl DREAM THEATER. Sei es im Rahmen ihrer mittelspäten Werke, ihrer Konzeptveröffentlichungen oder eben einfach nur anhand ihrer Spielfreude, die man speziell den Herren John Petrucci, Jordan Ruddess und auch Mike Mangini beim besten Willen nicht absprechen kann.

Gesten allein machen aber natürlich kein Album, auch wenn die PR-Maschinerien hinter den zahllosen Nacheiferern auch heute noch nicht müde werden, das uns anders verkaufen zu wollen. Und so liefern DREAM THEATER mit „Distance Over Time“ neun Songs, die ungewöhnlich direkt auf den Punkt kommen und zu dem heaviesten gehören, das die Band seit langem veröffentlicht hat. Die RUSH-Einflüsse sind natürlich auch hier präsent wie eh und je, aber dennoch klingen die New Yorker entfesselt, regelrecht befreit.

Der Opener „Untethered Angel“ verschwendet fast gar keine Zeit, um auf den Punkt zu kommen. Der Song baut sich schnell und effizient auf und nach nicht mal zwei Minuten Spielzeit kommt der Refrain auch schon zum ersten Mal ins Spiel. James LaBrie ist nach wie vor ein zweischneidiges Schwert, aber die neue Aggressivität der Songs scheint seiner inbrünstigen Intonation deutlich besser auf den Leib geschneidert als eine emotionsbetonte Rockoper, sodass seine Darbietung hier und auf den übrigen Tracks durchweg gefällt.

DREAM THEATER spielen frisch und frech auf

Erwähnte ich einige Absätze zuvor, dass „Distance Over Time“ den großen Prog der Band nicht zurückbringe, so lässt sich dies hier gut beobachten. Denn „Untethered Angel“ klingt tatsächlich eher wirkungsorientiert; ein Song der sich einen feuchten Kehricht um progressive Ambitionen schert, sondern mehr in Richtung Nacken zielt und erfrischend geradeaus gespielt ist – moderner, kunstvoller Heavy Metal ist das, von edler Qualität und druckvoll produziert.

Richtig klassische Heavy-Riffkunst gibt es gar zu Beginn von „Fall Into The Light“ zu bestaunen, bevor der Song zu einer wahren Tour de Force mit intensivem Finale mutiert. „Room 137“ groovt sich heftig und markig durch seine Spielzeit, während das folgende „S2N“ rhythmisch unbeständig und doch richtig locker aus der Hüfte geschossen kommt. „Out Of Reach“ hat den Titel der Quotenballade inne, klingt aber dem qualitativen Trend des Albums folgend sehr solide und für eine DREAM THEATER-Ballade vergleichsweise unkitschig.

Und sollte doch jemand einen Zuckerschock erleiden, so klärt der Rausschmeißer „Pale Blue Dot“ mit bester Traumtheater-Dramatik und einer düsteren Atmosphäre, die den von Carl Sagan inspirierten, sozialkritischen Gehalt untermalt. Der Track markiert sowohl das reguläre Finale als auch den kreativen Höhepunkt des Albums. Als Bonustrack gibt es dann noch den peppigen „Viper King“ obendrauf mit Blues-betontem Riffing und fast VOLBEAT-artigen Rock’n’Roll-Vibes. Hell Yeah!

Auf „Distance Over Time“ zelebrieren sich die New Yorker selbst

Das inhaltlich konsistenteste Werk ist „Distance Over Time“ gewiss nicht geworden, es kommt eher wie ein Allerlei an Themen daher, die den jeweiligen Texter just im Moment bewegt zu haben scheinen. Aber dafür macht die Platte einfach nur richtig viel Spaß, was sich wiederum mit der Entstehungsgeschichte des Albums decken würde, sollte die Presseinfo diese akkurat wiedergegeben haben. Wenn es jemals so etwas wie Feierabend-Prog-Metal gegeben haben sollte, so düfte „Distance Over Time“ genau das repräsentieren.

Es ist eines der direkteren Werke von DREAM THEATER, dem man die entspannte, kreative Atmosphäre des Entstehungsprozesses anhört. Das Album klingt ungezwungen und energisch, kraftvoll und wuchtig. Die Band verliert dabei die eigenen Wurzeln nicht aus den Augen, rückt sie aber etwas in den Hintergrund im Sinne des Songs. Analog zur neuen OBSCURA bieten die New Yorker weniger reines Geschwurbel und mehr reinen Genuss. Die Band zelebriert sich selbst – und das ist ausnahmsweise mal positiv gemeint. Mehr noch: Sie lädt ihre Hörer ein, eifrig mitzufeiern.

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20.02.2019

Redakteur für Prog, Death, Grind, Industrial, Rock und albernen Blödsinn.

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10 Kommentare zu Dream Theater - Distance Over Time

  1. doktor von pain sagt:

    Ah, Dream Theater… Vor 15 Jahren hätten die mich sogar noch interessiert. Aber da bin ich schon lange raus.

    1. ClutchNixon sagt:

      Es gibt ungleich spannenderes zuhauf. Dieser Gesang 🤦🏻‍♂️, aber wie du schon schriebst: Vor zwanzig Jahren wäre ich für Wochen mit diesem Release beschäftigt gewesen.

  2. nili68 sagt:

    Das, was ich von Youtube kenne, ist ganz okay. Der Metal besteht nicht nur aus Death und Black und Growls und Screams sind nicht der einzige Gesangsstil.
    In letzter Zeit höre ich eh (wieder) mehr Sachen wie PSYCHOTIC WALTZ und PAIN OF SALVATION und so.. außerdem haben solche Bands meistens geistreichere Texte..
    Werde ich mich mal näher mit beschäftigen.

    1. doktor von pain sagt:

      Pain of Salvation mag ich auch, mit Psycholtic Waltz bin ich hingegen nie so ganz warm geworden.

      1. ClutchNixon sagt:

        Gerade gestern erst wieder habe ich Bleeding und Mosquito am Stück gehört. Grandios, aber womöglich gefallen dir Deadsoul Tribe ja besser. Ist zwar immer noch ne Buddy, respektive Devon drin, aber die Mucke ist schon um einiges dunkler, als der PW Kram. In Sachen Pain of Salvation bin ich seit Scarsick komplett raus.

      2. ClutchNixon sagt:

        Korrektur: Menge

      3. nili68 sagt:

        Kann ich verstehen, obwohl ziemlich komplex, schmeicheln PoS mehr dem Ohr als PW, die etwas sperriger sind. Für Letztere muss man schon eher Prog-Aficionado sein. 😀

    2. Kartoffelblues sagt:

      Wirst Du wohl kennen, wenn nicht: Cynic – Focus; ARK – Burning the sun.
      Auch sehr gut, sofern Du was mit Thrash anfangen kannst: Vektor – Black Future.

  3. BlindeGardine sagt:

    Prog ist bei mir ja so ne sache. Ich weiß virtuosität und komplexität durchaus zu schätzen, solange sie in mitreißendes songwriting verpackt sind. Oft ist mir das aber trotz allem spielerischen können zu verkopft und seelenlos. Dream theater haben mich da leider auch nie wirklich mitgenommen, zumal ich den gesang einfach zu cheesy finde. Nach ersten höreindrücken wird sich das wohl auch jetzt nicht ändern.

  4. Heiter Sebastian sagt:

    Joar, schlecht ist die Platte nicht. Aber irgendwas fehlt dann doch. Da haben es Fates Warning mit ihren letzten Alben aus meiner Sicht deutlich besser geschafft, qualitativ an „gute, alte Zeiten“ anzuknüpfen.

    Im Review frage ich mich ja, warum der Autor „Kamelot“ und „Avantasia“ als Vergleiche anführt. Das ist ein bisschen, als würde jemand bei einem neuen Album von Blind Guardian betonen, dass es Kreator schlägt.

    7/10