Disillusion - The Liberation

Review

Mit geradezu filmografischer Grazie lassen die ersten Töne des Intros „In Waking Hours“ die Sonne vor den Ohren des Hörers aufgehen und leiten ein in das neue Album „The Liberation“ der deutschen Prog-Institution DISILLUSION, das viel zu lange auf sich hat warten lassen. Immerhin sind seit „Gloria“ auch schon schlappe 13 Jahre vergangen, lediglich die Single „Alea“ von 2016 wurde zwischen geschaltet, und live blieb die Band präsent (unter anderem spielten sie ihr Debüt in voller Länge). Doch ansonsten haben die Leipziger ihre Fans in Sachen neuer Songs ein bisschen auf dem Trockenen sitzen lassen. Das hat nun ein Ende, das dritte Full-Length-Album ist endlich da. Und es zeigt die Band in herausragender Form.

Wie zu erwarten bei DISILLUSION hat sich beim Sound wieder etwas geändert, was sich schon ein bisschen auf „Alea“ angedeutet hat. Was bei „Back To Times Of Splendor“ mit härterer Metal-Gangart begonnen hat und auf „Gloria“ experimenteller, moderner und elektronischer geworden ist, gerät auf „The Liberation“ nun atmosphärischer und symphonischer, wobei der härtere Metal der Band nach wie vor Einzug hält. Man bewegt sich im Gegensatz zum Debüt jedoch in deutlich stimmungsvollere und nicht ganz so harte Fahrwasser, und zwar mit einem Album, das durch seine vielschichtig durchkomponierten Songs eine enorme Größe suggeriert, ohne diese mit Bombast zu überladen.

DISILLUSION bieten dynamischen und emotionalen Metal

Das erreicht die Band vor allem mit zwei Schlüsselelementen: Die Tracks besitzen eine enorme Dynamik und eine beachtliche, emotionale Bandbreite. Ersteres steuern die Herren mit der Härte, die sie ihrer Musik bestimmt, aber auch mit Bedacht injizieren. Natürlich haben DISILLUSION ihre musikalischen Fingerabdrücke nicht abgewetzt. Und so findet der Hörer auch hier die bekannten Thrash- und Death-Anleihen wieder, die aber häufiger für hymnischere Parts aufgelöst werden.

Der emotionale Kitt, der das Gebilde zusammenhält, sind vor allem die großen Melodien, die geschickt durch die symphonischen Arrangements verstärkt werden. Aber hier kommt auch der abwechslungsreiche Gesang von Andy Schmidt zum Tragen, der sowohl in den aggressiveren wie auch hymnischeren Passagen eine hervorragende Leistung abliefert. Das Ganze wurde mit einem klaren Sound versehen, der den Hörer praktisch von der ersten Sekunde an warmherzig in Empfang nimmt. „The Liberation“ mag vielschichtig sein, doch es ist eben dank der Produktion ein durch und durch zugängliches Album, in dem man sich sofort heimisch fühlen sollte. Und zum Glück bringen DISILLUSION auch das Songmaterial mit, um die Klasse zu halten.

Große Songs, große Gefühle

Das eingangs erwähnte Intro leitet wunderbar in „Wintertide“ über, das dessen symphonische Eleganz mit den etwas ruppigeren Metal-Ausbrüchen zusammenbringt, wie man sie von DISILLUSION kennt. Diese äußern sich hier vor allem in präzise gespielten, zum Teil stark an Melodic Death gemahnenden Riffs mit dem Unterschied, dass die Leipziger ihren Melodien eine Menge Freiraum zum Herumtoben lassen und dem Song so eine gewisse Wildheit verleihen. Gleichzeitig nutzt die Band die Melodien auch, um geschmeidig zwischen den härteren und sanfteren Phasen des Tracks hin- und herzuschalten. Beide Seiten im Wechselspiel sorgen so für die nötige Dynamik, um diesen gehaltvollen Zwölfminüter ohne Leerlauf erfolgreich über die Zielgerade zu bringen.

Deutlich mehr in Richtung Härte und mit thrashigem Nachdruck wird dieses Gleichgewicht beim folgenden „The Great Unknown“ gekippt, inklusive Schmidts rauerer Gesangsdarbietung. Der atmosphärische Einschub im Mittelteil sowie die melodische Hook sorgen dafür, dass der Song nicht in stumpfes Geknüppel ausartet. „Time To Let Go“ bringt die Alternative-Seite von „Gloria“ ein Stück weit zurück für den eingängigsten Song der Platte, der dennoch atmosphärisch daher kommt. Zugegeben: Der Song klingt im ersten Moment fast ein bisschen zu simpel, um hier geschmeidig in die Trackliste reinzupassen. Doch im Mittelteil des Tracks nimmt dessen Intensität zu, was der Dynamik des Stücks wiederum zu Gute kommt.

Auch bei Longtracks verlieren DISILLUSION nicht die Nerven

Mit dem Titeltrack gelingt der Band erneut, was bereits mit „Wintertide“ geklappt hat: Ein vielschichtiger, geradezu cineastischer Zwölfminüter ohne Leerlauf. Der Song öffnet mit einem jubilierenden Motiv, leitet aber relativ schnell in den druckvoll und aggressiv galoppierenden Strophenteil über, der sich harmonisch wunderbar mit den eröffnenden bzw. wiederkehrenden Riffs ergänzt. Der Song baut sich dann nach und nach auf, um zu dieser furiosen Klimax überzuleiten, in der Schmidt fast schon mit beschwörerischer Inbrunst „and higher and higher and higher we go […]“ singt, ehe der Song zu seinem stimmungsvolleren, ruhigeren Mittelteil übergeht.

Der Rausschmeißer „The Mountain“, ebenfalls ein Longtrack, klingt wie das epische Finale, das ein derartiges Werk auch nicht anders verdient hat. Der Track beginnt schon wesentlich melancholischer und eindringlicher als die vorangegangenen Tracks, doch erst wenn der rockigere Anfang abklingt und Platz macht für getragene, mit Hall versehene Bläser, kann es einem schon mal richtig kalt den Rücken herunter laufen. Klaviertupfer, subtile Streicher und der klare Gesang von Schmidt machen diese Stelle des Songs zu einem absoluten Highlight mit Gänsehaut-Garantie, ehe der Track zum Schluss noch einmal in bombastischer Manier zu seiner metallischeren Seite findet.

„The Liberation“ ist befreiende Erleichterung nach langer Wartezeit

Es klingt wie ein Klischee, aber es passt einfach: „The Liberation“ sollte man am besten am Stück mit guten Boxen/Kopfhörern und ohne Störfaktoren erleben und genießen. DISILLUSION bieten großes Metal-Kino, das mit seiner geradezu einladenden Wärme primär das emotionale Zentrum anspricht. Doch statt durch Effekthascherei wird das Futter für die Seele in Form von unglaublich gut gespieltem und produziertem Prog Metal modernerer Machart verabreicht, der mehr als genug Nährstoffe fürs Hirn liefert. Sprich: Es sollte für jeden was Schmackhaftes dabei sein.

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04.09.2019

Redakteur für Prog, Death, Grind, Industrial, Rock und albernen Blödsinn.

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