Ist es schon zwanzig Jahre her, dass DISILLUSION eine musikalische Lawine entfesselten? Seinerzeit sorgte das Debütalbum der Leipziger Progressive-Metal-Band für Entzücken in der Hörerschaft und bei den Magazinen. Auch bei uns kassierte „Back To Times Of Splendor“ eine gute Kritik. Leider war es zwischenzeitlich lange still um die Band, sodass ihnen der Aufstieg in den Prog-Olymp verwehrt blieb. Mit der Neuauflage ihres legendären Erstlings könnte sich dies ändern, weswegen wir die „20th Anniversary Edition“ genauestens auseinandernehmen. Neben dem Originalalbum von 2004 enthält sie allerlei Bonusmaterial.
DISILLUSION und der perfekte Anfang – „And The Mirror Cracked“
Bei gerade mal sechs regulären Stücken bietet sich eine Track-by-Track-Rezension an, insbesondere wenn ein Album eine solch makellose Dramaturgie aufweist wie „Back To Times Of Splendor“. Die Reise eröffnet „And The Mirror Cracked“, das ohne großes Intro mit einem krachenden Riff loslegt. Wo andere Bands Zeit und Energie in den Spannungsaufbau stecken, nutzen die Leipziger das Überraschungsmoment und zaubern in den ersten zwei Minuten des Openers ein Prog-Melo-Death-Fest aus den Instrumenten.
Anstatt das Tempo hochzuhalten, tänzeln DISILLUSION nach dem ersten Refrain in eine leichtfüßige Akustikpassage, die Zeit zum Durchatmen bietet und im Kopf Bilder des aufkeimenden Frühlings heraufbeschwört. Eine Reprise des Anfangsriffs unterbricht das trügerische Ende des Zwischenspiels und schließt den Kreis zum zentralen Thema des Liedes. „And The Mirror Cracked“ wird somit zum Paradebeispiel einer innovativen und spannenden Liedstruktur.
„Fall“ – das klassischste Stück auf „Back To Times Of Splendor“
Mit knappen fünf Minuten teilt sich „Fall“ mit „A Day By The Lake“ die kürzeste Spielzeit auf der Scheibe. Wir haben es strukturell mit dem am klassischsten agierenden Titel zu tun. Die vom Schlagzeugspiel und Andy Schmidts sehnsüchtigem Gesang geprägten Strophen wechseln sich mit einem fast radiotauglichen Refrain ab, der von mehrstimmigen Gitarren und „ohrwurmigen“ Vocals bestimmt wird. Die auf dem ganzen Album präsenten, aber nie dominanten Keyboards unterstützen den Flow des Liedes, sodass es Filmscorecharakter gewinnt. Mit „Fall“ beweisen DISILLUSION, dass sie keinen Zehnminüter brauchen, um Bilder im Kopf zu erzeugen.
„Alone I Stand In Fires“ – der DISILLUSION-Livehit
Gerade wenn es nicht um Headlinerkonzerte geht, müssen DISILLUSION mit ihrer Spielzeit haushalten, weshalb sie die monumentalen Epen hintenanstellen. Mit „Alone I Stand In Fires“ haben sie ein Zwischenstück entworfen, das mit sieben Minuten immer hineinpasst. Es ist eines der härtesten Lieder des Albums, das in der Mitte einen prägnanten Mosh- und Headbangpart beinhaltet. Die mehrfach wiederholte Titelzeile eignet sich zum Mitgrölen und Fäuste-in-die-Luft-Strecken.
Trotz der Eingängigkeit mancher Passagen ist die vielschichtige Gitarrenarbeit der Beweis für einen fantastischen Progressive-Thrasher. Zudem wechselt Andy Schmidt mühelos zwischen aggressiven Growls und säuselndem Klargesang. Das einzige Problem von „Alone I Stand In Fires“ ist, dass es „nur“ die Einleitung zum besten Stück des Albums und der Band ist.
„Back To Times Of Splendor“ – der Titelsong, der Geschichte schreiben muss
Es ist immer fein, wenn Musik Emotionen auslöst. Das kann situativ geschehen, wenn man Lieder mit Erinnerungen verbindet, oder es ist das Stück selbst, das einen Dinge fühlen lässt. Das Intro des Titelsongs von „Back To Times Of Splendor“ mit seiner markanten Violinenmelodie treibt auch nach zwanzig Jahren noch Tränen in die Augen wie am ersten Tag – das Gänsehautfeeling ist vorprogrammiert.
Bei dem Fünfzehnminüter ziehen DISILLUSION alle Register. Der Track beginnt nach dem Intro klassisch mit einem Strophe-Refrain-Schema, bevor er in ein Schlagzeug-Intermezzo, das das Herannahen eines kommenden Sturms ankündigt, übergeht. Auch die Lyrics spiegeln diesen Eindruck wider. Mit bedrohlicher Stimme beschwört Schmidt dunkle Wolken am Horizont herauf, die sich im Verlauf immer weiter verdichten. Das folgende musikalische Gewitter bricht mit Blastbeats unbarmherzig über einen herein – danach folgt nicht etwa das Ende, sondern Ruhe.
Sanfte Regentropfen, leichte Donnergeräusche und Vogelgezwitscher leiten den zweiten Part ein – darauf folgt eine leichtfüßige Paarung von Schlagzeug und Akustikgitarre. Es fühlt sich an wie die wiederkehrende Sonne nach einem großen Sturm. DISILLUSION entführen ihre Hörerschaft ins Kino – ganz ohne Leinwand. Die Verschnaufpause währt aber nur kurz, denn ein Nachbeben bahnt sich an und Schmidts psychotisch anmutende Screams gehören zu den intensivsten auf dem Album. Schließlich spannt die Band den Bogen zurück zum Refrain aus dem ersten Akt und beendet den Titeltrack damit schlüssig. „Back To Times Of Splendor“ ist ein Meisterwerk, das die Bezeichnung Epos verdient.
„A Day By The Lake“ bietet Raum für Erholung
Ja, „Back To Times Of Splendor“ verlangt einem einiges ab. Doch was bietet sich besser an, als ein Tag am See, um sich zu erholen? Das ruhigste Stück der Platte heißt „A Day By The Lake“ und transportiert mit seinem überwiegend akustisch gehaltenen Charakter genau dieses Gefühl. Auf der anderen Seite macht sich eine Vorahnung breit, dass der cineastische Ritt noch nicht überstanden ist. Der ruhige Gesang wiegt einen in trügerischer Sicherheit, die durch die abschließende Textzeile „But I am still hoping that fall will never come – but it came“ zunichte gemacht wird. „A Day By The Lake“ ist das vertonte Gefühl des letzten richtig schönen Sommertages.
„The Sleep Of Restless Hours“ – das große Finale
„The Sleep Of Restless Hours“ ist mit siebzehn Minuten der längste Titel auf „Back To Times Of Splendor“, aber er verkommt nicht zum Abziehbild des Titeltracks, sondern transportiert eine komplett andere Stimmung. Das Finale deutet nicht nur textlich das Ende der Reise an, auch die musikalische Seite zeigt noch einmal alle Facetten der Band. Der vierminütige Aufbau bis zur ersten Strophe könnte ein eigenes Stück sein und wieder schaffen es DISILLUSION, sich nach einem normalen Strophe-Chorus-Muster für mehrere Minuten in einer atmosphärischen Klangwelt zu verlieren.
Der Clou von „The Sleep Of Restless Hours“ ist, dass es sich nach der Wiederholung des Refrains und zwölf Minuten Spielzeit scheinbar verabschiedet, sich dann nach kurzer Stille wieder aufbaut und ein vierminütiges Outro, das eine wütendere Version des Intros darstellt, entfesselt. Geplättet bleibt man als Hörer*in zurück und der Finger wandert wie von selbst zur Repeattaste. Doch Halt!: DISILLUSION haben für die Jubiläumsausgabe noch Bonusmaterial im Gepäck.
Die „The Porter“-Single und Liveaufnahmen – DISILLUSION machen ihren Fans ein Geburtstagsgeschenk
Zwei Jahre vor „Back To Times Of Splendor“ veröffentlichten DISILLUSION auf einem kleinen Label die „The Porter“-Single, die das Titelstück sowie den Song „Eternal Duality“ umfasst. Die beiden Fünfminüter fungieren als Blaupause für das, was später folgen sollte. Zwar sind sie gradliniger als ihre jüngeren Geschwister, aber sie zeigen bereits das immense Können der Musiker und ihre Fähigkeit, kohärente Songs zu schreiben. Da die Single schon lange ausverkauft ist, machen DISILLUSION sie jetzt wieder verfügbar. Dadurch bekommen die beiden Stücke die Aufmerksamkeit, die sie verdienen. Abgerundet wird das Paket von zwei Liveaufnahmen von „And The Mirror Cracked“ und „Alone I Stand In Fires“, die mit ihren leicht veränderten Arrangements sehr interessant sind.
„Back To Times Of Splendor“ ist in Noten gegossene Perfektion
Was DISILLUSION 2004 als Debütalbum veröffentlicht haben, ist beeindruckend. Das sanfte Beben, das die Scheibe bei Release auslöste, sollte sich in den Folgejahren weiter verstärken. Die Band verschwand Ende 2007 in eine achtjährige Pause, bis sie 2015 zurückkehrte, um das Album auf ausgewählten Konzerten in voller Länge zu zocken – die Fanstimmen waren laut Aussage der Leipziger so laut, dass sie sie nicht mehr ignorieren konnten. Danach folgten eine Single und mit „The Liberation“ und „Ayam“ zwei weitere, grandiose Comebackwerke. „Back To Times Of Splendor“ ist nun zwanzig Jahre alt und DISILLUSION feiern ihr „Baby“ mit weiteren Full-Album-Konzerten. Doch auch die Band darf sich feiern lassen, denn sie hat eines der besten Metalalben der 2000er-Jahre und darüber hinaus geschaffen.
Zeitloses Meisterwerk!
Danke für den Tipp.
Ist an mir vorbeigeschreddert, obwohl das genau meine Baustelle von Mucke ist:)
Da denkt man , man kennt alles……….