Die Ärzte - Hell

Review

Acht Jahre hat es seit dem letzten blutleeren Album „Auch“ gebraucht. Nach der anschließenden Tour sind DIE ÄRZTE in der Versenkung verschwunden. Während bei ihren Fans das Comeback heiß ersehnt wurde, wünschten sich die Fans der TOTEN HOSEN, dass auch ihre Band eine Pause eingelegt hätte, in der sie darüber nachgedacht hätte, ob sie wirklich einen Song wie ‚Wannensee‘ schreiben sollte. Die Berliner haben die Zwischenzeit genutzt, um sich mehr mit sich selbst zu beschäftigen, was „Hell“ spürbar zugute kommt. Deswegen können wir uns ganz aufrichtig darüber freuen, dass wir DIE ÄRZTE endlich wiedersehen.

Album Nummer 14 hört auf den doppeldeutigen Namen „Hell“. Und da wir nicht bemustert wurden, durfte ich das ebenso doppeldeutige Cover in persona genießen. Die Berliner sind ja für extravagante Verpackungen bekannt, doch die fällt dieses Mal ungewohnt gewöhnlich aus: Das Album erscheint als Artbook mit mehr als 50 Seiten. Neben den Texten gibt es eine Vielzahl an Schwarz-Weiß-Fotografien vom Equipment, Bandmitgliedern und weitere Impressionen, die einen hohen ästhetischen Wert haben und dem Booklet eine angemessene Rolle als Teil des Gesamtkunstwerks zugute kommen lässt. Die Kehrseite ist, dass es keine Standardversion gibt und damit alle physischen Ausgaben überdurchschnittlich teuer ausfallen.

Ein schlechter erster Eindruck

Gerade nach den beiden Single-Auskopplungen ist die Kaufbereitschaft für den interessierten Hörer jedoch rapide gesunken: ‚Morgens Pauken‘ (Neben dem Intro ‚E.V.J.M.F.‘ übrigens der einzige Song, für den mehrere Bandmitglieder Songwritingcredit bekommen.) ist ein langweiliger Ufta-Rock-Song, in dem Bela B. mal wieder über die Widersprüche des Begriffs „Punk“ sinniert, die grundsätzlich alle Subkulturen nach einer gewissen Zeit ereilen. Der Nummer-Eins-Hit ‚True Romance‘ ist eine seichte Vertonung der Fragen, die man Siri und Alexa aus Langeweile stellt. Die plumpen Anmachen Urlaubs wehren sie wahrscheinlich mit ‚Du willst mich küssen‘ ab. Nach den ersten Hördurchläufen von „Hell“ kann man über die Singleauswahl nur den Kopf schütteln. Diese Platte hat tatsächlich einige Hits zu bieten.

Der Quasi-Opener ‚Plan B‘ ist ein launiger Pop-Punk-Song Urlaubscher Art, der die rockige Grundhaltung verdeutlicht. ‚Das letzte Lied des Sommers‘ ist ein Indie-Song, der sowohl musikalisch als auch textlich Bezug auf ‚Westerland‘ nimmt. Da das lyrische Ich das Urlaubsziel nicht erreicht, könnte dieses Lied ein rückwirkender Sommerhit werden. ‚Ich, am Strand‘ und ‚Liebe gegen Rechts‘ machen durch ihre Reggae- bzw. Hillbilly-Grundstimmung ebenfalls Spaß.

Das Album hat klar die Handschrift von Farin Urlaub, so ist er schließlich an elf Liedern beteiligt. Urlaub ist für die launigen Pop-Punk-Songs auf dem Album verantwortlich, die meisten Hits sind aus seiner Feder und er bringt mit Reggae und Hillbilly die genannten neuen Einflüsse auf das Album. Belas Songs haben eine ernstere Note, er führt die Akustikgitarre als Lead-Instrument ein. Mit ‚Achtung: Bielefeld‘ und ‚Clown Aus Dem Hospiz‘ spielt er Melo-Pop, welches auf’s Format-Radio schielt. Mit ‚Einmal ein Bier‘ und dem kurzweiligen ‚Alles auf Brille‘ widmet er sich seinen Punk-Wurzeln.

Interessanter ist sowieso die textliche Ebene: „Hell“ erweist sich als ein Album über das Altern. Mit ‚Achtung: Bielefeld‘ lobpreist B. die Langeweile, ‚Ich, am Strand‘ zeigt die Grübelei über die Willkür des Lebens und in ‚Leben vor dem Tod‘ wird es nochmal ganz existenziell. Diese ernste Seite steht dem Trio überraschend gut. Sie erlaubt einen Einblick in drei alternde reflektierte Männer, die spannender sind, als die zahmen Witze, die spätere Songs wie ‚Liebe gegen Rechts‘ und ‚Thor‘ prägen.

Der helle Wahnsinn

Das Album endet mit dem langerwarteten Anti-Rechts-Track ‚Woodburger‘. Farin Urlaub bemüht sich gar nicht um eine ernsthafte Hymne im Kampf gegen den Reaktionismus, da wohl auch ihm aufgefallen ist, dass es nicht mehr viel über ihn zu sagen gibt, was schonmal gesagt wurde. Also ist es ein eher humoristisches Lied: Das lyrische Ich hat erkannt, dass es nicht reicht gegen die Partei zu singen. Daher möchte es homosexuell werden und die Partei von innen heraus zerstören. Das wäre eine (ziemlich platte) Erklärung für den Eintritt Alice Weidels. Doch es gibt genügend Berufsleugner wie Danielle Ganser, die sich daran nicht stören werden.

Nach einer Stunde sitzt man verblüfft und befriedigt vor der heimischen Anlage. „Hell“ ist ein gutes, erwachsenes Album, welches das Dilemma des alternden Rockers elegant verarbeitet. Es wird aber dem enormen Hype nicht gerecht. Zu viel Ausschuss befindet sich auf dem Album. Wenn einige Lieder weggefallen wären, wäre der Hörspaß wesentlich höher. Für DIE ÄRZTE wäre es nicht verkehrt, wenn sie sich jetzt auflösen würden. Ein besseres Album werden sie wohl nicht mehr herausbringen.

29.10.2020
Exit mobile version