Die Ärzte - Das ist nicht die ganze Wahrheit...

Review

Unter "Blast From The Past" erscheinen jeden Mittwoch Reviews zu Alben, die wir bislang nicht ausreichend gewürdigt haben. Hier gibt es alle bisher erschienenen Blast-From-The-Past-Reviews.

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Die Frage nach dem besten Full-Length-Album der ÄRZTE wird wohl noch lange für Diskussionen sorgen. Bei nicht wenigen kommt nach dieser Frage „Planet Punk“ wie aus der Pistole geschossen. Immerhin wurde es auch schon von Farin Urlaub selbst als Lieblingsalbum genannt und definierte mit dem zuvor veröffentlichten Album „Die Bestie in Menschengestalt“, mit dem die Band nach ihrer fünfjährigen Auszeit verstärkt durch Rodrigo Gonzáles am Bass zurückkehrte, die Schaffensphase nach der Neugründung nachhaltig. Aber welches hat die interessanteste Hintergrundgeschichte?

Die Zeit vor BelaFarinRod

Dafür kann man zum Beispiel der Einfachheit halber in die Frühphase der Band blicken, als das Lineup hinsichtlich der Bassparts noch instabil und der Ton noch weit weniger kompromissbereit, geradezu rebellisch war. Da schufen BelaFarin (damals noch ohne -Rod) Musik, mit der sie sich eifrig mit der Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Medien anlegten. Und während etwa das berüchtigte Debüt „Debil“ 2004 wieder vom Index genommen und später als „Devil“ wiederveröffentlicht worden ist, harren das selbstbetitelte dritte Album sowie die EP „Ab 18“ immer noch dort aus – Umstände, welche die Band damals schwer gebeutelt haben und ihre Airplayqualitäten massivst einschränkten.

Und so kam es unter anderem durch diese und weitere zum Teil gar historische Umstände, dass das Ende beschlossene Sache war und „Das ist nicht die ganze Wahrheit…“ 1988 das – wie sich im Nachhinein bekanntermaßen herausstellen würde vorläufige – letzte Album der Berliner Punker sein sollte. Der zuvor als Live-Bassist eingestiegene Hagen Liebing, der mittlerweile 2016 unter tragischen Umständen verstorben ist, hatte dabei kaum eine Saite für dieses Album gerührt. Stattdessen übernahm Farin Urlaub die Tieftönerpassagen, während man beschloss, die Songs fließend ineinander übergehen zu lassen oder durch Samples zu überbrücken, was dem Flow der Platte dank stilsicherer Durchführung tatsächlich zu Gute kommt.

DIE ÄRZTE rüsteten sich für das (vorerst) letzte Gefecht

Eingedampft oder gar resignativ sollte „Das ist nicht die ganze Wahrheit…“ dennoch keineswegs klingen, denn es handelt sich bei der Platte um eine der abwechslungsreicheren Alben der Band, vor allem hinsichtlich ihrer früheren Inkarnation. Anstatt sich zu ergeben gaben die ÄRZTE noch einmal alles und ließen sich kreativ beflügeln, während das Wort um die Auflösung der Band wiederum wirksam die Verkäufe beflügeln sollte. Wobei man natürlich schon vermehrt darauf achtete, was man in den Songs sagte.

Und rückblickend ist die Hitdichte enorm hoch, während das Songmaterial erstaunlich gut gealtert ist. Ein „Westerland“ genießt heuer natürlich einen zweifelhaften Ruf als Festzeltschunkler, aber mit Distanz betrachtet ist der Song wirklich nicht so schlecht. Doch kann „Das ist nicht die ganze Wahrheit…“, benannt nach einem Zitat von William Shatner übrigens, doch einiges mehr. Der Opener „Ohne dich“ ist ein kecker Rocker, bei dem der herrlich selbstgefällige Gesang von Farin Urlaub besonders gut passt, während die gepfiffene Hook nachhaltig im Ohr bleibt.

Kein perfekter Lauf, aber dennoch durchweg gelungen

Das Hauptriff von „Baby ich tu’s“ basiert auf JUDAS PRIESTs „Breaking The Law“ und überzeugt durch seine Dynamik, die zwischen rockenden und akustischen Läufen geschaffen wird. Der Kniff mit dem Griff in die Metal-Kiste ereignet sich auch unter anderem auf „FaFaFa“ von „Bestie“, aber das nur nebenher. Eine richtige Überraschung hält „Komm zurück“ mit seinen Synth-Pop-Anleihen parat, die auch die ulkige Vegetarier-Verballhornung „Blumen“ in Teilen sowie das bekannte „Bitte Bitte“ dafür umso konsequenter aufgreifen sollte.

Daneben tummeln sich natürlich auch normale (Pop-)Punk-Stücke wie „Wilde Welt“ oder „Außerirdische“ sowie regelrechte Stadion-Rocker wie „Popstar“, das auch kurz mal auf den „Stress mit der Zensur“ anspielt. Nicht jeder Song sollte sich als Dauerbrenner herausstellen, aber hörbar sind sie durchweg, ohne dass man einen Track wie bei neueren Veröffentlichungen der Band sofort genervt skippen möchte. Interessant ist im übrigen auch die Vorgeschichte des härtesten Stückes der Platte „Elke“, das als kurzfristig konzipierter, komplett überzogener Rache-Song für bzw. über zwei übergewichtige, weibliche Fans eingespielt worden ist, welche die Band bei den Aufnahmen belästigt haben.

„Das ist nicht die ganze Wahrheit…“ war natürlich nicht das Ende

Es ist erstaunlich schwer, „Das ist nicht die ganze Wahrheit…“ im gesamten Backkatalog der Ärzte einzuordnen, weil es irgendwie dann doch stilistisch komplett hervor sticht. Fest steht aber, dass die Platte eine der interessanteren Hintergrundgeschichten hat, die hier natürlich nur angerissen worden ist, und möglicherweise dadurch so breit aufgestellt klingt. Immerhin haben andere Bands schon wesentlich schlechtere Alben vor ihrer einstweiligen Auflösung aufgenommen. Man kann über die ÄRZTE somit sagen was man will, nicht aber, dass sie sich leicht haben unterkriegen lassen. Und bekanntermaßen sollte „Das ist nicht die ganze Wahrheit…“ eben doch noch nicht das Ende sein.

Jüngst haben sie ja wieder einen „Abschied“ verkündet, der jedoch im Hinblick auf das Wirken der Band weitaus weniger endgültig erscheint, als der Abschied mit diesem Album schien…

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29.05.2019

Redakteur für Prog, Death, Grind, Industrial, Rock und albernen Blödsinn.

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2 Kommentare zu Die Ärzte - Das ist nicht die ganze Wahrheit...

  1. BlindeGardine sagt:

    Auf diesem Album sind natürlich viele Klassiker, meine Pistolen-Schuss-Reaktion wäre aber vermutlich auch „Die Bestie in Menschengestalt“ bzw. „13“ gewesen.

    8/10
    1. ClutchNixon sagt:

      Für mich gern auch das großartige Jazz ist anders ☝️