Wer immer noch glaubt, zeitgenössischer Prog beschränke sich auf technisch versierte Musiklangweilerei und Frickeleskapaden, dem sei dringend das Debütalbum des britischen Kollektivs DIAGONAL empfohlen. Zwar ist hier nichts zwingend originell, jedoch alles eher Pastiche als Diebstahl. „Diagonal“ versprüht von der ersten Sekunde an einen nostalgischen Geist, der alle bereits bekannten, innig geliebten Referenzen sofort wieder erkennen lässt. Die Band legt ihre Inspirationsquellen Song für Song offen; man könnte diese Vorgehensweise als eine Art akustische Konzeptkunst bezeichnen: Das fängt bei der Huldigung an GENTLE GIANT und WARHORSE im elfminütigen Opener „Semi Permeable Men-Brain“ an und wird im zweiten Song schnell zu einem Wiedersehen mit dem für mich unerreichten Prog-Klassiker GENESIS‘, „The Lamb Lies Down On Broadway“.
Gegenwärtig wirken allein die Texte, in denen beklemmende Dystopien gesponnen werden und DIAGONALs ganzer Defätismus zum Vorschein kommt. Sie sehen darin eine ehrliche, realistische Haltung gegenüber der Welt, und würden bestimmt ihre ganze Präsenz in die Vergangenheit verlagern. Auch durch die Instrumentierung setzen die zu spät Geborenen ein Statement: digitale Einflussnahme auf ihren Sound scheuen sie wie Katzen Wasser. Statt modernen Samplern oder polyphonen Synthesizern benutzen DIAGONAL ein altmodisches Mellotron, verstaubte Minimoogs, Klarinette und Saxophon, schneiden dann mit diesen warmen, fiepsig-wimmernden Klängen durch massive Gitarrenwände, die sie mit ihren statischen Jams errichten. Das trocken scheppernde Schlagzeug gibt einen steten Groove vor, dicht umschlungen von einem wattebauschenen Bass. Space-Riffs, dezentes Fingerpicking, Wahwah-Effekte und heulende Orgeln betten sich darin ein und entwickeln einen zwingenden, psychoaktiven Sog, den Alex Crispin mit seiner hellen dazu gequälten Stimme am Versickern hindert.
Originell ist hier ausschließlich die Konsequenz, wie die Referenznahme auf Prog-Rock der siebziger Jahre zu einem autonomen künstlerischen Statement wird. Es birgt keinerlei innovative Soundentwürfe, überzeugt aber durch ambitioniertes Songwriting und seinen authentischen Vortragsstil. Um es kurz zu machen: Ich glaube, es kann nicht schaden, sich wieder die Haare und den Bart wachsen zu lassen.
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