Dark Tranquillity - Moment

Review

Was wurde DARK TRANQUILLITY bereits in den letzten Jahren attestiert? Kollege Kostudis befürchtete in seiner Review zu „Construct“ beispielsweise, die Melo-Death-Urgesteine könnten „in der musikalischen Bedeutungslosigkeit“ versinken. Der Ausstieg der beiden Gründungsmitglieder Martin Henriksson bereits vor dem letzten Album „Atoma“ und zuletzt Niklas Sundin dürfte dann auch einige Fans dazu gebracht haben, einem neuen Album eher mit gemischten Gefühlen entgegen zu sehen. Was würden die beiden Neu-Gitarristen Johan Reinholdz und Chris Amott beizutragen haben? Verändert sich der Sound der Schweden nun komplett? Geht man gerade aufgrund der neuen Besetzung lieber auf Nummer sicher? Diese Fragen sollten auf „Moment“ nun endlich beantwortet werden – und natürlich auch in unserem Interview mit Mikael Stanne.

DARK TRANQUILLITY – Bis ins Letzte ausgearbeitete Melodien

Im Grunde gibt „Phantom Days“ bereits ein Stück weit die Marschrichtung vor, in die sich „Moment“ bewegt. Sicher keine der spektakulärsten Nummern der Platte, handelt es sich durchaus um einen typischen DARK TRANQUILLITY-Opener, der ordentlich nach vorne geht, aber im Vergleich mit „Encircled“ (auf „Atoma“) oder „For Broken Words“ („Construct“) die deutlich einprägsameren, ja besseren Melodien parat hat. Denn genau das ist der Fokus, den die Band auf „Moment“ offenbar gesetzt hat: Bis ins Letzte ausgearbeitete Melodien – sowohl für Gitarre als auch Gesang – die sich sofort im Gehör festsetzen können.

Mit „Transient“ und „Identical To None“ folgen zwei Tracks, die beide besonders in ihren Details überzeugen können, das gewisse Etwas haben, was sie nicht beliebig macht. Letztlich wiegen sie den Hörer aber noch ein wenig in Sicherheit, da sie sich noch am ehesten in gewohnten Sphären bewegen.

Das ist aber spätestens mit „The Dark Unbroken“ vorbei. Wenn ein fast 40jähriger bärtiger Mann (gemeint ist der Rezensent) ständig Gänsehaut bekommt, weil ein noch älterer bärtiger Mann (gemeint ist Mikael Stanne) einfach so schön singt, dass ersterem fast die Tränen in den Augen stehen, klingt das vielleicht erst einmal äußerst seltsam. Allerdings schafft Stanne hier tatsächlich eine ziemlich überraschende, deutliche Weiterentwicklung seines Klargesangs, die so wohl von kaum jemandem erwartet werden konnte. Sämtliche Scheuklappen wurden offenbar weggeworfen, fast alles ist erlaubt. Zu melodisch, zu „romantisch“? Egal. Der sympathische Fronter dominiert auf „Moment“ wie nur selten zuvor, wagt sich an neue ungewohnte Melodieführungen und legt einen starken Refrain nach dem anderen hin.

Von hymnisch bis garstig – vielschichtig und ausbalanciert

A propos: Die Kombination „guttural gesungene Strophe/klar gesungener Chorus“ wurde im Hause DARK TRANQUILLITY bislang erstaunlich selten eingesetzt, trägt hier aber essentiell zur Qualität des Albums bei. Wenn – wie viele vor vier Jahren behaupteten – der Titelsong von „Atoma“ bereits am Hymnen-Thron von „Misery’s Crown“ sägte, was tun dann Über-Hits wie „The Dark Unbroken“, „Standstill“ oder „The Truth Divided“?

Wer jetzt aber ein komplett weichgespültes Album erwartet, der liegt komplett daneben. „Moment“ ist vielschichtig und berücksichtigt praktisch alle bisherigen Schaffensphasen der Band seit „Projector“. Gerade nach dem melancholischen Mittelteil wird es mit „A Drawn Out Exit“ noch einmal richtig dunkel und garstig. „Failstate“ hätte im Grunde ohne Probleme auch auf „Damage Done“ funktioniert. Selbst für DARK TRANQUILLITY eigentlich völlig untypisches, wie die fröhliche, leicht folkige Melodie von „Empires Lost To Time“, findet auf dem Album Platz und fügt sich sogar perfekt in den – im Übrigen perfekt ausbalancierten und auf das Songmaterial ausgerichteten – Sound ein.

Die neue, stellenweise an DEPECHE MODE und THE CURE erinnernde Wave-Schlagseite, die zuletzt besonders in den beiden Bonus-Songs auf „Atoma“ zur Geltung kam, taucht ebenfalls wieder auf, dieses Mal aber in „The Truth Divided“ geschickt mit Gitarren und Schlagzeug kombiniert. Das Ergebnis: Einer der stärksten Songs – dank dem unfassbaren Gänsehaut-Refrain vielleicht sogar der stärkste Song – der Platte.

Zeigt, wie melodischer Todesstahl 2020 klingen muss – „Moment“

DARK TRANQUILLITY überwinden mit „Moment“ ein kleines Tal, schließen einen weiteren Erneuerungsprozess, der mit „Construct“ begonnen wurde, ab. Vielleicht waren es genau die Wechsel in der Besetzung und vor allem das deutliche Plus an Zeit für die Ausarbeitung des Materials, die bewirkten, dass DT wieder absolut auf der Höhe des Geschehens sind, obwohl sie ja eigentlich nie wirklich weg waren oder wirklich schlechte Alben veröffentlicht haben.

„Moment“ zeigt, dass der klassische Melodic Death Metal noch lange nicht tot ist. Es zeigt, wie melodischer Todesstahl skandinavischer Prägung 2020 klingen kann – vielleicht sogar klingen muss – um weiterhin relevant zu bleiben. Um deutlich zu machen, wie stark die Songs auf „Moment“ sind: Selbst eine Nummer wie „Remain In The Unknown“, die auf „Atoma“ ganz klar zu den Album-Highlights gezählt hätte, geht zwischen zwei Monstern wie „The Dark Unbroken“ und „Standstill“ fast schon ein wenig unter.

All diejenigen, die nach den letzten Alben mutmaßten, das DARK TRANQUILLITY nichts mehr zu sagen haben, werden hiermit eines besseren belehrt. Eines muss, bei aller Euphorie über dieses, der Perfektion verdammt nahe kommende, Release aber auch klar gesagt werden: Wer bislang weder etwas mit Melodic Death anfangen, noch die Faszination dieser Band ansatzweise nachvollziehen konnte, den wird auch „Moment“ nicht mehr bekehren können.

12.11.2020

"Time doesn't heal - it only makes you forget." (Ghost Brigade)

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