Unter "Blast From The Past" erscheinen jeden Mittwoch Reviews zu Alben, die wir bislang nicht ausreichend gewürdigt haben. Hier gibt es alle bisher erschienenen Blast-From-The-Past-Reviews.
Es ist manchmal erstaunlich, welche unfassbaren Klassiker in unserem seit mehr als 25 Jahren aufgebauten Review-Archiv noch fehlen. Umso mehr Spaß macht es, sie alle auszubuddeln und einer Retrospektive zu unterziehen – insbesondere, wenn es sich dabei um solch grandiose persönlichen Favoriten handelt, wie “Focus”, das Debüt-Album der Progressive-Death-Metaller CYNIC aus Miami. Die für fast 15 Jahre lang einzige Platte von Paul Masvidal, Sean Reinert (R. I. P.), Sean Malone (R. I. P.) und Jason Gobel ist zudem neben “Human” von DEATH und “Elements” von ATHEIST eine der wegweisendsten und einflussreichsten Alben im progressiven Death-Metal-Milieu. Warum das so ist, versuchen wir folgend zu ergründen.
CYNIC: Musiker von Weltrang
Zunächst ist es allgemein kein Geheimnis, dass die Herrschaften allesamt meisterhafte Alleskönner an ihren Instrumenten sind. Teils mit erheblichem Jazz/Fusion-Einfluss und einer ordentlichen Portion musiktheoretischer Bildung ausgestattet, konnten wir Reinert und Masvidal zum Beispiel noch auf dem bereits genannten, ebenfalls sehr einflussreichen “Human”-Werk von DEATH bestaunen; während Sean Malone als Domestizierer des Fretless Basses im extremen Metal noch bei GORDIAN KNOT und der Prog-Rock-Supergroup OSI (mit Jim Matheos von FATES WARNING und Drum-Oktopus Mike Portnoy) zu hören war. Allerdings ist die Qualität der Musiker zwar oft Indiz, niemals aber Evidenz für ein gelungenes Album und so müssen wir uns die Songs näher anschauen. Beim Blick auf die Tracklist fällt auf, dass sich gleich zwei moderne Progressive-Metal-Bands nach Songs des Albums benannt haben: TEXTURES und VEIL OF MAYA. Zufall? Natürlich nicht.
Denn obwohl CYNIC auf ihren Demos noch Thrash Metal spielten, ist ein Großteil der Musik auf “Focus” nur anhand der harschen Vocals als Death-Metal-Scheibe erkennbar. Diese stammen übrigens gastweise von Keyboarder Tony Teegarden, da Paul Masvidal während der Produktion mit Stimmproblemen zu kämpfen hatte. Die Produktion (Scott Burns) ist aufgeräumt und klar. Der warme Drumsound kontrastiert die kühlen Synthetik-Sounds von Synthesizer und Vocoder, die uns gepaart mit elektronischer Percussion bereits im Opener “Veil Of Maya” überraschen. In fünf Minuten passiert unglaublich viel; verschachtelte und seltsam melodische Gitarrenfiguren treffen auf cleanes Fusion-Picking. CYNIC verstehen sich im variationsreichen Spiel mit Motiven und so hat der Song trotz der futuristischen Ästhetik einen klar erkennbaren roten Faden.
Entspannt genießbarer Progressive Rock mit kantigem Death-Metal-Gesang
Innerhalb dieses Rahmens bewegen sich CYNIC munter weiter. “Celestial Voyage” verdeutlicht, wie groß der Einfluss auf eine zeitgenössische Band wie OBSCURA ist. Davon zeugt nicht nur der Vocoder-Effekt auf dem Gesang, den CYNIC noch viel frequenter einsetzen als die Bayern. Die Experimente mit Sounds und Stilistiken in “Sentiment” und “I’m But A Wave To …” waren ihrer Zeit mehrere Dekaden voraus und nehmen eine Menge Elemente vorweg, die heute unter “modernen” Prog-Bands (ihr wisst schon, die ganzen gut gestylten jungen Menschen mit Gitarren, die mehr Saiten haben als ihre Youtube-Playthroughs Klicks) etabliert sind. Was CYNIC und ihre Frühphase auch heute noch so einzigartig macht, ist ihr Gespür dafür, technischen Wahnsinn mit eingängigen Ideen zu verbinden und so den Song im Vordergrund stehen zu lassen. Kein Stück auf “Focus” ist über fünfeinhalb Minuten lang; alles hat einen wunderbaren Fluss. Der Rausschmeißer “How Could I” mit seinem Klargesang-Growl-Wechselspiel und dem technoiden Synthie-Riff demonstriert besonders, wie innovativ Masvidal und Kollegen seinerzeit vorgegangen sind.
Seit 2008 veröffentlichen CYNIC unter teils wechselnden Besetzungen wieder regelmäßig neues Material, wobei Paul Masvidal sein Geld hauptsächlich mit Soundtracks für TV, Spiele und Software verdient und die Alben in teils größeren Abständen voneinander erscheinen. Seit “Traced In Air” sind CYNIC mehr als je zuvor eine Fusion-und-Prog-Rock-Kapelle; die ganz harten Metal-Einflüsse sind größtenteils verschwunden. Allein deswegen is “Focus” auch für die Geschichte der Band selbst und ihre Beteiligten etwas Besonderes. Nicht zuletzt ist es ein ewiges Monument für das musikalische Talent von Sean Reinert, der 2020 plötzlich an einem Aortenriss starb und Sean Malone, der infolge des Todes von Reinert und seiner eigenen Mutter sowie der Belastung durch die Corona-Pandemie immer mehr in Depressionen verfiel und sich 2021 im Alter von nur 50 Jahren leider das Leben nahm. Ein Album wie “Focus” sowie diverse andere Beteiligungen und Aufnahmen lässt uns diese tollen Musiker sowieso nie vergessen!
Tolle Musiker machen Musikermusik. Das hat mich damals genervt und tut es noch heute. Der geradezu inflationär eingesetzte Vocoder veranlasst meine Zehennägel noch heute dazu, sich aufzurollen. Für alle Leute, die das m.E.zu Unrecht gehypte Album noch nicht durchlitten haben, bin ich mal so frei den besten Teil des Albums hier zu vermerken: Uroboric Forms ab Minute 2:57.
Für mich ein absolutes Meisterwerk! Was da abgeliefert wird ist Weltklasse.
Ich fürchte bei Focus bin ich befangen 🙂
ich habe bei Erscheinen der Platte vor Staunen die Kinnlade nicht mehr hochbekommen, hier stimmte für mich einfach alles, hart, melodisch, verfrickelt, Vocoder und Grunzgesang im Duett, irre, und die inhaltlichen Querverweise auf Death aus Gründen inklusive.
wer Death Metal UND Progrock, Fusionjazz feierte war hier goldrichtig, genreübergreifend und sehr sehr anspruchsvoll
es war ne geile Epoche im Metal und vergleicht man dieses Werk mit heutigem Frickel-Fusion-Irgendwas-Death-VÖs fällt die Aufgeräumtheit angenehm ins Gewicht, auch hatte man Mix und Master noch nicht bis ins schmerzhafte Nirvana ausgereizt.
historisch betrachtet ein Meilenstein der noch um so angenehmer zu hören ist wenn man damals im aufnahmefähigen Alter war 🙂
Die Platte war schon damals weder hart noch aufgeräumt. Und natürlich ist das alles ganz wunderbar gezockt, allerdings allein der Technik wegen, denn wirkliche Songs enthält das Album mitnichten.