Cthulhu - Grundregelwerk
Review
Irgendwo in den Tiefen des Pazifiks ruht Cthulhu, geboren zwischen den Sternen, im Schicksal aber mit der Erde verbunden. Einst wird er sich erheben und unseren Planeten unterwerfen. Bis dahin schützt uns selige Unwissenheit. Doch der Herr von R’lyeh ist nur eine von vielen Kreaturen, deren Anblick alleine uns den Verstand rauben kann – und lediglich Namensgeber für das Pen-and-Paper-Rollenspiel „Cthulhu“.
„Cthulhu“ konfrontiert uns mit unserer Machtlosigkeit
„Cthulhu“ ist ein Urgestein unter den Horror-Rollenspielen. Im englischen Original, und bis vor einigen Jahren auch in der deutschen Version, erscheint es seit knapp 40 Jahren unter dem Titel „Call of Cthulhu“. Es ist also nach einer Kurzgeschichte von H. P. Lovecraft (1890-1937) benannt. Dessen Geschichten drehen sich um fremdartige Schrecken aus den Tiefen des Kosmos und längst vergangenen Erdzeitaltern. Wer mit ihnen zusammenstößt, gewinnt eine verstörende Ahnung davon, wie machtlos und unbedeutend wir Menschen im Angesicht dieses vielgestaltigen Horrors sind.
Was macht den Reiz eines solchen Rollenspiels aus wenn man unter diesen Vorzeichen nur verlieren kann? Tatsächlich gibt es Szenarien für „Cthulhu“, in denen die Niederlage eine wahrscheinliche Option ist. Vielleicht können die Spielfiguren zwar einen kleinen Sieg erringen können, müssen dabei aber erkennen müssen, wie sinnlos er in Anbetracht des großen Ganzen ist. Das System richtet sich also eher an jene Spieler*innen, die mit dem stimmigen Ende einer Geschichte zufrieden sind, selbst wenn dies für ihre Charaktere den Tod oder den geistigen Zusammenbruch bedeutet.
„Cthulhu“-Abenteuer spielen klassischerweise in den 1920er-Jahren, in denen H. P. Lovecraft besonders aktiv war. Es geht gegen undurchsichtige Kulte, die Menschen für abscheuliche Rituale entführen. Es geht auf Expeditionen in uralte Ruinen, wo ungeahnte Schrecken lauern. Es geht auf die Flucht vor undurchsichtigen Gegnern, in deren Visier man verhängnisvollerweise geraten ist. Zwar geht das Grundregelwerk von den 1920ern als Normal-Setting aus, doch sowohl Zeit, als auch Ort oder Milieu können für eigene Szenarien frei gestaltet werden. Aktuell lieferbare Abenteuer führen unter anderem an Bord eines sowjetischen Atom-U-Boots, in den amerikanischen Bürgerkrieg oder in die Zeit der Französische Revolution.
Ein Hinweis zu H. P. Lovecraft: In den vergangenen Jahren wird zunehmend die rassistische Einstellung des Schriftstellers aufgearbeitet. In der Angst vor dem Fremden schwingt bei Lovecraft immer auch die Abscheu gegenüber anderen Kulturen mit. Das Rollenspiel mit Szenarien, die von seinen Geschichten inspiriert sind, ist aber natürlich auch möglich, ohne seine rassistischen Gedanken zu reproduzieren.
Einfache Regeln, unendlicher Schrecken
Die „Cthulhu“ zugrundeliegenden Regeln sind im Verhältnis zu anderen Pen-and-Paper-Rollenspielen simpel und schnell zu begreifen, also auch für völlige Einsteiger*innen geeignet. Zudem liegen vielen Szenarien, die im Fachhandel käuflich erworben werden können, vorgefertigte Charaktere vor. Diese sind häufig mit einer eigenen Hintergrundgeschichte ausgestattet, was zusätzliche Vorarbeit abnimmt. Erfahrene Rollenspieler*innen mag dies nicht immer schmecken, kann in bestimmten Szenarien aber auch besonders reizvoll sein.
Wer sich selbst einen Charakter erstellen möchte, hat die Wahl zwischen mehreren gängigen Berufen. Natürlich kann man einen Privatdetektiv oder eine Okkultistin spielen, aber auch Buchhändler oder Mechanikerin sind mögliche Berufe. Wie oben bereits erwähnt, sind die möglichen Hintergründe vielfältig und zahlreich. In anderen historischen Settings können es auch Ritter oder Hacker sein, die sich dem kosmischen Schrecken entgegenstellen.
Attribute und Fertigkeiten haben einen Wert von 0 bis 100. Wer sich also einer Herausforderung, würfelt also mit einem hundertseitigen Würfel – in der Regel simuliert mit zwei zehnseitigen Würfeln – und überprüft das Ergebnis. Liegt es unter dem Wert des Attributs oder der Fertigkeit, gilt die Probe als bestanden. Glückspunkte können dabei helfen, eine misslungene Probe doch noch zu bestehen. Ein wichtiger Regelmechanismus in „Cthulhu“ wird zudem über den Vorrat an Stabilitätspunkten abgebildet. Je mehr man hat, desto weiter ist man vom geistigen Zusammenbruch entfernt.
Beispiel gefällig?
Privatdetektivin Jane versucht, den brutalen Kultisten mit dem Auto zu entwischen. In „Autofahren“ hat sie einen Wert von 55, doch bei der Probe würfelt sie eine 58. Eigentlich ist die Probe misslungen, doch wenn sie drei ihrer Glückspunkte ausgibt, kann sie das Ergebnis korrigieren und doch noch erfolgreich entkommen.
Doch was ist das? Im Rückspiegel sieht sie etwas, das kein Mensch ist. Bei dem Anblick läuft es ihr kalt den Rücken hinunter. Aktuell hat sie noch 47 Stabilitätspunkte. Diesen Wert gilt es zu unterwürfeln. 45! Das war knapp. Doch die Spielleitung weist daraufhin, dass der Anblick sie trotzdem nicht loslässt. Jane verliert einen Stabilitätspunkt und muss das nächste Mal unter 46 kommen.
Geistige Stabilität und zerbrechliche Körper
Wer zu viele Stabilitätspunkte auf einmal verliert, läuft Gefahr, kurzzeitig die Kontrolle über seinen Charakter zu verlieren. In diesem Punkt, aber auch an einigen anderen Stellen, ist das Regelwerk nicht ganz eindeutig, beziehungsweise übersichtlich. Zwar gibt es ein ganzes Kapitel, dass sich etwaigen Geistesstörungen widmet, aber keine klare Übersicht, welcher Effekt wann genau eintritt. Außerdem erscheint die Ermittlung von sich entwickelnden Geistesstörungen anhand von Zufallstabellen nicht nachvollziehbar.
Darüber hinaus sind Geisteskrankheiten ohnehin ein heikles Thema und ihre Verwendung im Spiel, sowie das Horror-Level, generell sollte vorab innerhalb der Spielrunde abgesprochen werden. In diesem Punkt kann die Spielleitung eher der Situation entsprechend entscheiden oder sich eigene Mechanismen überlegen.
Schneller noch als das die geistige Gesundheit bei „Cthulhu“ leidet, drohen physische Verletzungen. In diesem Punkt ist das Spiel gnadenlos realistisch. Durchschnittlich haben die Spielfiguren 10 bis 12 Trefferpunkte und der Treffer einer Pistole kann bereits bis zu 10 davon kosten, also durchaus tödlich sein. Wer „Cthulhu“ spielt, sollte sich also nicht zu sehr mit seinen Charakteren anfreunden. Wenn in einem kurzen Abenteuer eine Figur im Finale stirbt, mag dies zu einem stimmungsvollen Ende beitragen. Wenn aber in einer langen Kampagne vor jeder zweiten Runde ein neuer Charakter erstellt werden muss, kann dies nervig werden.
Magiepunkte gibt es übrigens auch. Doch wer in „Cthulhu“ zaubern möchte, sollte dabei seine geistige Stabilität im Auge behalten. Ohnehin ist das Erlernen von Zaubern eine mühevolle und gefährliche Angelegenheit, die nur unter bestimmten Bedingungen möglich ist. Im Rahmen eines normalen Abenteuers wird es nur selten dazu kommen, dass eine der Spielfiguren wirklich zaubert.
Ein zugänglicher Alleskönner
„Cthulhu“ gerät trotz seines schlanken Regelwerks manchmal ins Schwafeln. Vieles wird zu langatmig erklärt, anstatt es kurz und knapp zusammenzufassen. Abhilfe schaffen Cheat-Sheets, von Fans erstellte Regelübersichten, die online in mehreren Variationen zu finden sind. „Cthulhu“ ist also flexibel, muss aber manchmal entstaubt werden.
Im Bereich der Horror-Rollenspiele gibt es inzwischen einige Alternativen, die in bestimmten Bereichen besser ausgearbeitet sind oder die sich ganz speziell einem Setting widmen. „Cthulhu“ bleibt jedoch der leicht zugängliche Allrounder, der auch kleinere Anpassungen für den Hausgebrauch fehlerfrei übersteht.
Wer komplett neu im Rollenspiel-Hobby ist und Bock auf Horror hat, findet mit dem Grundregelwerk der 7. Edition von „Cthulhu“ den perfekten Einstiegspunkt zu einem günstigen Preis. Neben vorgefertigten Abenteuern zum Losspielen enthält der Band alle Infos über die Wesen und Hintergründe des Mythos, um eigene Szenarien zu kreieren. Der Fantasie sind also keine Grenzen gesetzt. Doch habt Obacht: Stoßt das Tor in fremde Welten nicht zu weit auf.
Der Soundtrack für den ersten Blick in den Abgrund: THE GREAT OLD ONES – Cosmicism / SULPHUR AEON – The Scythe Of Cosmic Chaos / ELECTRIC WIZARD – Witchcult Today / REVEREND BIZARRE – II: Crush The Insects / MERCYFUL FATE – Melissa
Würfeln und blättern, statt lauschen und headbangen – In der Rubrik „Dice ‚em All“ stellen wir euch ausnahmsweise keine Musik vor, sondern Rollen- und Brettspiele.