Cryptic Shift - Visitations From Enceladus

Review

CRYPTIC SHIFT streuen zwar seit 2014 regelmäßig Demos und EPs in den Orbit, dürften aber bisher hauptsächlich Insider*innen ein Begriff sein. Immerhin scheinen sie mit Steffen Kummerer (OBSCURA) einen prominenten Unterstützer zu haben. Tatsächlich kann das Longplayer-Debüt “Visitations From Enceladus” (Enceladus ist übrigens einer der Saturnmonde) eine ähnliche Zielgruppe ansprechen. Das Quartett aus Leeds hat sich die kaum sperrige Stilbezeichnung “Phenomenal Technicological Astrodeath” verliehen und frönt einem progressiven Sound, der tief in den späten Achtzigern und ganz frühen Neunzigern verwurzelt ist.

CRYPTIC SHIFT zeigen viel Wertschätzung für die Genre-Klassiker, führen dieser aber weiter

Bereits das Sichten der äußerlichen Eckdaten legt die Vermutung nahe, dass man viel Zeit und Konzentration investieren muss, um das Werk zu erfassen. Vier Songs bilden das Album, dessen Opener “Moonbelt Immolator” allein stolze 26 Minuten dauert; zwei weitere können mit je über sieben Minuten ebenfalls als Longtracks gelten. Verheißungsvoll stellt sich auch die optische Gestaltung von “Visitations From Enceladus” dar: Vinyl und Tape haben ein gemeinsames Artwork bekommen (mit dem die Platte hauptsächlich beworben wird) und die CD exklusiv ein eigenes. Wobei erstgenanntes durch den Verzicht auf Bandlogo und Albumtitel ein wenig stimmiger aussieht.

Die leicht trashigen Promofotos bedienen perfekt die Genre-Klischees alter Progressive-Extreme-Metal-Bands. Das liegt vor allem an der opulenten Gesichts- und Kopfbehaarung, der geschmackvollen Wahl der Shirts (TIMEGHOUL und – natürlich – VOIVOD) sowie am Science-Fiction-Accessoire, das alle Bandmitglieder in der Hand halten.

Bandfoto - Cryptic Shift

“Visitations From Enceladus” – Sinfonie oder Film im Kopf?

“Moonbelt Immolator” leitet das Album mit Sci-Fi-Sounds und verspielten, improvisiert klingenden Gitarren-Pickings ein. Die Dissonanzen, kaum greifbaren Taktstrukturen und das sich langsam hinzugesellende, zurückhaltend perkussive Schlagzeug steigern sich zunächst. Dann endet diese Reminiszenz an klassische Ouvertüren, worauf erneute Soundtrack-Schnipsel folgen, bis alle Instrumente unisono wieder einsetzen. Wären die Technik- und Weltraum-Samples durch gregorianische Choräle ersetzt, könnte man meinen, DEATHSPELL OMEGA zu hören.

Die Gitarren sind zwischen linkem und rechtem Kanal faszinierend verwoben auskomponiert und bedienen sich einiger abgefahrener Griffbrettgeräusche, auf die Trey Azagthoth sicher stolz gewesen wäre. Inzwischen sind über fünf Minuten vergangen und das schleppende Präludium weicht abrupt einem superschmissigen Techno-Thrash-Riff mit VOIVOD-Einschlag, das in jeder Wiederholung neu variiert und weitergesponnen wird. Dazu sorgen der Gesang, der an CORONER erinnert und wie bei den Schweizern eher zurückhaltend-narratives Ornament ist, und der konsequente Unwille, eingängige Strukturen aufrechtzuerhalten, für ein breites Grinsen. Es wird klar, dass man der kompositorischen Dichte des Albums unmöglich folgen kann, während man etwas anderes tut, und sei es nur, die Augen zu öffnen. Genie und Wahnsinn liegen auf dem CRYPTIC-SHIFT-Debüt nah beieinander, das macht das Album so schnell klar, wie die Tatsache, dass der Bandname nicht treffender gewählt sein könnte.

Zweifel am eigenen Fassungsvermögen sind berechtigt

Was folgt – schließlich wird der Song noch locker eine Viertelstunde dauern – ist eine der verrücktesten musikalischen Reisen seit “Citadel” von NE OBLIVISCARIS. Bis etwa Minute 19 befindet sich nahezu alles im kompletten Fluss, bevor das erste Mal so etwas wie eine Wiederholung eines Parts angedeutet wird. Mehrmals wechseln sich hektischer Thrash, zäher Death Metal und jazzige Soli oder cleane Ambient-Passagen ab. Herausforderungen sind stets die fast völlige Freiheit von “klassischen” Melodien und die häufig alternierenden Taktarten. Das Gesamtbild erinnert stark an die Bayern-Rotterdam-Connection (OBSCURA, NONEUCLID, ALKALOID) und wegen des massiven Sounds an GORGUTS, ULCERATE und DEATHSPELL OMEGA.

Ein Album, das Bereitschaft und Geduld erfordert

Im Wesentlichen ist der auf “Moonbelt Immolator” präsentierte Stil richtungsweisend für die übrigen Tracks des Albums. “(Petrified In The) Hypogean Gaol” startet wesentlich direkter als sein Vorgänger und hat relativ nachvollziehbare Grooves in den Strophen. Die etwas melodischeren Gitarren erinnern wieder an die deutlich moderner gelagerten NE OBLIVISCARIS, außerdem werden dezente MORBID-ANGEL-Einflüsse verarbeitet. Nach wie vor sind die Arrangements enorm komplex, werden aber etwas kompakter gefasst und haben so mehr Raum zum Atmen.

“The Arctic Chasm” ist ein schwer verdauliches Konglomerat aus VOIVOD, MORBID ANGEL und CYNIC, das mitunter gezielt in die komplette Atonalität abdriftet. Wieder bieten ruhige Passagen die Erlösung – kurz bevor man geneigt ist, sich mittels Pausetaste eine Verschnaufpause zu gönnen. Hervorzuheben und auch im Mix optimal positioniert ist vor allem in diesen Parts der effektbeladene Fretless Bass. Schließlich entlässt einen der letzte Song “Planetary Hypnosis” mit beeindruckenden In-die-Fresse-Drums hinaus in eine Leere, in der es zunächst schwer fällt, überhaupt noch etwas zu hören.

CRYPTIC SHIFT erzeugen den Eindruck von durchdachter konzeptioneller Einheit

Es wäre interessant, die Texte zur Verfügung zu haben. Denn es ist durchaus denkbar, dass die vielen Breaks und Parts einen Zweck im erzählerischen Gefüge erfüllen. Sicher ist das nicht gerade barrierefreies Hörvergnügen, doch die Details auf “Visitations From Enceladus” sind so konsequent auf die Spieldauer verteilt, dass es den Anschein hat, Teil des Gesamtkunstwerkes zu sein. Als epische Achterbahnfahrt inklusive Kopfkino funktioniert das Album wunderbar und es wäre gelacht, wenn es nicht den Nerv vieler Genre-Fans treffen würde.

26.04.2020

Redakteur | Koordination Themenplanung & Interviews

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