Ich ließ mich in der Hotellobby mit einem Green Vesper auf die Ledercouch sinken und atmete tief durch. Verfluchtes Provinznest! Umso erstaunlicher, dass der Barkeeper Bescheid wusste. Gut, das Getränk war nicht hochklassig, aber hochprozentig, und genau das war es, was für mich in diesem Moment zählte. Die Flüssigkeit rann meine Kehle hinunter, und ich spürte, wie sie auf meinen Schleimhäuten brannte. Harter Stoff vielleicht, aber in diesem Kaff die einzige Möglichkeit, der tödlichen Langeweile von der Klinge zu springen. Ich wischte die Mundwinkel mit der Krawatte ab und atmete durch. Verfluchtes Provinznest.
Einige Zeit später sah ich die Szenerie schon deutlich entspannter, flirtete hier und da und machte Späße auf Kosten von ein paar Vollpfosten, die vor der Tür in der Kälte rauchten. Ich zündete mir ganz Rudi-Assauer-like einen Zigarillo an, woraufhin die Frau am Empfang stampfenden Schrittes auf mich zukam und mir bedeutete, dass ich doch bitte mein Geschoss wieder ausmachen sollte. Nichtraucherhotel, Belästigung der anderen Gäste, Lungenkrebs. Welche anderen Gäste?, wollte ich entgegnen, ließ es aber bleiben und machte den Zigarillo aus, weil ihre Bluse aufreizend drall gefüllt war und ich mit solch einer Sahneschnitte keinen Ärger anfangen wollte.
In der Bar war nicht viel los (streng genommen war ich der einzige zahlende Gast). Ich weiß nicht mehr, beim wievielten Green Vesper ich angelangt war – oder war es schon purer Absinth? Ein Schleier hatte sich bereits über meinen Blick gelegt, als sich ein Typ scheinbar aus Langeweile zu mir an den Tisch setzte. Strähniges, zu langes Haar, Hammerkoteletten, Pornobärtchen, ein offenes weißes Hemd. Noch weißer war allerdings seine Kauleiste mit der auffälligen Lücke zwischen den Vorderzähnen. „Tach, der Herr, darf ich mich setzen? Was sage ich, ich sitze ja schon. Hahaha. Steiffen, mein Name, Christian Steiffen mit zwei f“, schwallte es mir entgegen. Ich brachte nur ein Grunzen hervor, das ich mit einem kräftigen Schluck Absinth – oder war es jetzt immer noch Green Vesper? – herunterspülte.
„Unangenehm, Rex Marshall“, entgegnete ich, woraufhin mein Gegenüber unbeirrt fortfuhr. „Ich bin Poet und Entertainer, Arbeiter der Liebe…“ – „Das Bernsteinzimmer der guten Musik“, fiel ich ihm mit einem besonders abgeschmackten Bild ins Wort. „Woher…?“ begann Steiffen mit zwei f, hielt aber inne und fing an zu grinsen. Da war wieder seine Blendamed-Kauleiste. „Ich habe gerade mein erstes Demo aufgenommen – „Ich hab‘ die ganze Nacht von mir geträumt“ – und werde die Lieder heute Abend hier im Vollplayback vortragen.“ Beeindruckend, der junge Mann. „Eigentlich bin ich ja noch auf der Suche nach einem Plattenvertrag.“ Er hielt inne, vielleicht um seine Worte nachhallen zu lassen. Wusste er, dass ich…? Nein. Ich versuchte besonders lässig zu wirken, indem ich den Kopf in den Nacken warf. Schwerkraft hin oder her, jedenfalls nahm die Haftung auf der Ledergarnitur ab, und ich rutschte unsanft zu Boden.
Im nächsten Moment beugten sich ein paar Damen über mich, wobei ich die dralle Schnitte vom Empfang wiedererkannte. Bevor sich auch nur der Anflug eines Lächelns auf meinem Gesicht zeigen konnte, überkam mich ein Brechreiz, dem ich auch schon nachgegeben hatte, bevor ich bis drei zählen konnte. Peinliche Situation. Ich wischte die Mundwinkel mit einem Geldschein ab, den ich auf dem Tisch fand, und atmete durch. Meine rechte Hand griff mechanisch nach der Absinthflasche, fand sie aber nicht. Ich blickte auf und bemerkte Christian Steiffen mit zwei f, der etwas von „Ich fühl‘ mich disco!“ faselte und zur Tanzfläche schlenderte. Dort nahm er ein Mikrofon in die Hand, in der anderen hielt er lässig eine Selbstgedrehte, die unregelmäßige Rauchfahnen abgab. „Heute Abend geh‘ ich raus, und ich weiß, es gibt Applaus.“ Neben ihm tänzelte eine ganze Riege Blondinen. Ich rieb mir ungläubig die Augen und versuchte aufzustehen. Ich nestelte in meiner Hosentasche nach den Zigarillos. „Die Ladies in the house sehen prima aus“, reimte er weiter. „Ich wackel‘ mit dem Po, und ihr macht es ebenso.“ Ich ließ die Zigarillos stecken, mittlerweile hatte die Szenerie nichts Wirkliches mehr. „Ich fass‘ mir in den Schritt, und alle machen mit.“ Ich versuchte etwas zu sagen, aber die Worte blieben mir im Hals stecken. Ein unkontrolliertes Röhren entwich meiner Kehle. Lachreiz. Atemnot.
Drei Gläser Absinth später (und ich könnte schwören, dass auch ein Green Vesper dabei war) saß ich neben der Ledercouch, als der steiffe Barde etwas von Sexualverkehr trällerte. Sein Akzent klang ein wenig nach Howard Carpendale, aber vor meinem geistigen Auge erschien Roland Kaiser mit einer neunschwänzigen Peitsche. Die Frage nach dem Warum stellte sich schon lange nicht mehr. Ich war hackedicht, nicht mehr Herr meiner Sinne und der Koordination meines Körpers. Ich johlte auf und lallte in den Raum: „Steiffen mit zwei f, Du bist echt lustig! Du hast Humor!“
Was sonst noch passierte? – Wen interessiert das schon. Am nächsten Morgen wachte ich mit grässlichen Kopfschmerzen in meinem Hotelzimmer auf. Das Zimmermädchen kam an diesem Tag glücklicherweise nicht, was mir Zeit gab, einige Spuren des vorangegangenen Abends zu entfernen. Bett, Teppich – nicht schön. Später bestellte ich mir das Abendessen aufs Zimmer: Schnitzel, Spiegeleier, fettige Fritten, Alka Selzer, Aspirin und zwei Baltika. Ein befehlsartiges „eine Flasche Bier!“ huschte durchs Gedächtnis. Ich musste grinsen.
Am Tag darauf reiste ich ab. Von Christian Steiffen habe ich seitdem nichts mehr gehört. Schade eigentlich. Wird Zeit, dass ich den Kollegen vom Ablehnen & Rücksenden mal einen ganz heißen Tipp gebe. Kann ja nicht nur Lena geben.
WTF? Der erste April ist doch schon rum…?!
FRITTEN INS EISFACH
Das ist die Rezi des Jahres zur Platte des Jahres — Hammer!
Und in dem einschlägigen Video-Portal gibt es unter “ Christian Steiffen, Ich fühl mich disco! “ noch eine optisch-akustische Zugabe.
Dieter-Thomas Kuhn kann einpacken, das hier ist T R U V Metal !!!!!
Christian (hat einen) Steiffen macht die Gäste froh, ja die richtigen Gäste froh!