Cathedral - Anniversary

Review

In der Morgendämmerung der 90er-Jahre tauchten sie mit ihrem eindrucksvollen Demo „In Memorium“ am Horizont der metallischen Welt auf. 20 Jahre später, am 03. Dezember 2010, spielten CATHEDRAL in der Londoner O2 Islington Academy auf, um zwei Dekaden Existenz gebührend zu feiern. Das Vermächtnis dieses Abends liegt nun in Gestalt eines randvollen, insgesamt 140-minütigen Doppel-Live-Albums mit Artwork von Haus-und-Hof-Künstler Dave Patchett und – in der ersten, limitierten Inkarnation – 40-seitigem Booklet mit Fotos der Jubiläums-Show sowie Poster vor. Und da die Briten im Frühjahr ihre Auflösung bekannt gegeben haben, wird das kurz und knapp „Anniversary“ betitelte Werk mit seinem Best-of-Charakter noch mehr als das für 2012 angesetzte letzte Album nicht nur zu einem Vermächtnis dieses Abends, sondern gleichzeitig zu einem Abschiedgeschenk dieser so einflussreichen Doom-Metal-Formation.

Das denkwürdige Konzert bestand aus zwei Teilen, deren erster wahrlich Außergewöhnliches zu bieten hatte: „Forest Of Equilibrium“, das 1991er-Debüt CATHEDRALs, wurde von der damaligen Originalbesetzung in seiner erdrückenden Gesamtheit dargeboten. Der unbestrittene Doom-Metal-Klassiker hat – zusammen mit „In Memorium“ – eine gewisse Sonderstellung in der Diskographie der Band inne, kommt er doch bei vorwiegend langen Kompositionen merklich schwerer und düsterer als alle nachfolgenden Alben daher. Er stellt ein Bindeglied zwischen Bands wie BLACK SABBATH, PENTAGRAM oder SAINT VITUS und der Death-Metal-Szene, der die Musiker entstammen, dar – die leichte Death/Doom-Metal-Schlagseite erhält das Material insbesondere durch den rauen Gesang des vormaligen NAPALM DEATH-Grunzers Lee Dorrian. Und was soll man sagen, der Frontmann intoniert alte Brocken wie „Ebony Tears“ oder „A Funeral Request“ an diesem Dezemberabend 2010 in fast exakt der kratzig-niedergeschlagenen Tonlage von anno dazumal. Selbst bei „Reaching Happiness, Touching Pain“ mit seinen unterschwelliges Unbehagen weckenden Flötentönen gelingt es, die spezielle Atmosphäre auch unter Live-Bedingungen heraufzubeschwören. Wäre da nicht der wummernd-druckvolle, aber nie gekünstelt wirkende Klang, so würde der Enthusiasmus der Darbietung auf ein uraltes Live-Bootleg aus den frühen 90er-Jahren schließen lassen.

Nach dem zähflüssigen Debüt wurde die Musik der Briten zugänglicher, da schneller und Groove-betonter; 70er-Jahre-Rock- und traditionelle Heavy-Metal-Einflüsse machten sich breit. CATHEDRAL kappten aber niemals alle Taue zum Doom Metal, verloren auch nie die ihnen eigene Exzentrik. Der zweite Teil des Konzerts bietet einen spannenden Ritt durch diese Zeit beziehungsweise die Diskographie der Band nach 1991, richtet den Fokus dabei auf die älteren Alben: Die großartige, allgemein unterbewertete Übergangsscheibe „The Ethereal Mirror“ von 1993 ist mit drei, „The Carnival Bizarre“ von 1995 gleich mit vier Stücken vertreten – vom beschwingt groovenden „Midnight Mountain“ über das treibende „Ride“ bis hin zum größten Gassenhauer der Band, „Hopkins (The Witchfinder General)“, werden alle Stoner/Doom-Kleinode mit energisch-warmen Ansagen versehen, mit spürbarer Spielfreude gezockt und vom Pulikum lautstark goutiert. Auf die mittleren, weniger zwingenden Werke der späten 90er-/frühen 2000er-Jahre verzichten CATHEDRAL komplett, steigen erst wieder bei ihren letzten beiden Langrillen – „The Garden Of Unearthly Delights“ von 2005 und „The Guessing Game“ von 2010 – ein. So gibt es an Weisen neueren Datums etwa das psychedelisch-bizarre „Funeral Of Dreams“, den furiosen, schweren Rocker „Upon Azrael’s Wings“ und mit dem Zugaben-Intro „The Last Spire Pt.1 (Entrance)“ einen Ausblick auf das für 2012 geplante, zehnte und letzte Studioalbum „The Last Spire“.

Ist also alles an „Anniversary“ ausgezeichnet? Nun, wenn man nur akribisch genug sucht, finden sich bekanntermaßen an allen Dingen Makel. Bei Live-Alben sind das Fehlen einer authentisch-lebendigen Atmosphäre und eine (dem persönlichen Geschmack nach) nicht gelungene Setlist wohl die häufigsten Kritikpunkte. An Live-Stimmung und CATHEDRAL’schem Herzblut mangelt es „Anniversary“ wie erwähnt nicht; was die Zusammenstellung der Lieder betrifft, mag man mokieren, dass dieses oder jenes Album durch die falschen Nummern oder sogar überhaupt nicht repräsentiert wird, dass etwa ein „Autumn Twilight“ oder ein „Grim Luxuria“ fehlt. Doch das sind Marginalitäten, die diesem Juwel aus der Hand der Meister der echten Lässigkeit und der turmhohen Riffs nicht seinen Glanz nehmen können.

Eine finale Messe wird am 03. Dezember 2011 in London stattfinden, genau ein Jahr nach jener, die „Anniversary“ so imposant für die Nachwelt festhält. 2012 werden sich die Portale der Kathedrale dann für immer – oder zumindest bis zu einer möglichen, gut dotierten Reunion – schließen. Doch das mächtige Hauptschiff und die beiden majestätischen Türme der Westfassade werden dem Sturm der Zeit noch eine ganze Weile trotzen. Noch oft werden Menschen vorbeigehen, sich angesichts des beeindruckenden Bauwerks erinnern oder, wenn Sie zu den Jüngeren gehören, durch die großen Spitzbogenfenster einen Blick ins prachtvolle Innere werfen.

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21.10.2011

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