Disillusion - Back To The Times Of Splendor

Review

Was ist eigentlich Perfektion? Die meisten halten sie für ein abstraktes Ideal, welches lediglich in den Bereichen von Philosophie oder Religion eine Relevanz hat. Böse Zungen behaupten sogar, dass Perfektion Stillstand sei. Das ist natürlich hanebüchener Blödsinn: Perfektion ist Perfektion. Wir vergessen leider viel zu gerne, dass gerade die Künste uns die Chance geben, diese zu berühren und zu erfahren. Denn manchmal werden wir mit Werken beschenkt, die Zeit, Ort sowie Kontext transzendieren. Sie gleichen Geschenken, welche uns aus dem grauen Alltag und in eine völlig eigene Sphäre befördern. Aus diesem Grunde widmen wir uns hier erneut der unterbewertetsten deutschen Band überhaupt, DISILLUSION. Nachdem sich der Bandklassiker „Back To The Times Of Splendor“ dieses Jahr zum 20. Mal gejährt hat und dieser mit einem schmucken Re-Release gefeiert wurde, wird es mal wieder Zeit. Zeit, in die fantastische Welt dieses Überklassikers abzutauchen!

Die beängstigende Perfektion von DISILLUSION

Der Opener „…And The Mirror Cracked“ zieht den Hörer direkt in einen emotionalen Mahlstrom, aus dem es kein Entkommen gibt. DISILLUSION lehnen es ab, dem Zuhörer das Händchen zu halten und setzen ihn hochprogressiven High-Class Metal aus. Es gibt hier kein vorsichtiges Herantasten, langweilige Passagen oder ein zu langes Intro. Das Album hat zwar nur sechs Songs, doch ist zum Bersten voll und besitzt nicht einmal den Ansatz von Leerlauf. Jede Minute ist von einer absoluten emotionalen Dringlichkeit durchsetzt, die über die gesamte Laufzeit erhalten bleibt. In der heutigen Metalszene wirkt dies wie eine Erfrischung. Die größte Falle konventioneller Bands liegt nämlich darin, sich hinter dicken Songlängen zu verstecken. Wenn wir wirklich ehrlich zu uns sind, könnten sie meisten überlangen Songs auf fünf Minuten zurechtgestutzt werden und wären damit viel hörbarer.

Nicht so bei DISILLUSION: Jede Passage hat Hand und Fuß. 

Als der herrliche Piano-Break des Openers vorbei ist und erneut das Hauptthema ertönt, versteht der Metal-Gourmet, dass er Ohrenzeuge eines fantastisch strukturierten Songs geworden ist. Man kann nichts entfernen, ohne, dass das ganze Gebilde auseinanderfällt. Na egal. Das Ganze kann ja auch ein Glückstreffer gewesen sein, oder? Pustekuchen. Mit „Fall“ donnert uns ein weiterer Song um die Ohren, der eine veritable 10/10 ist. Mit seinem knapp fünf Minuten gehört er zu den einzigen beiden Songs, die eine normale Länge aufweisen. Wer sich einen guten Ersteindruck verschaffen will, ist an dieser Stelle optimal bedient. Das musikalische Rückgrat der Leipziger besteht nämlich aus ziemlichen thrashigen Death Metal, welcher ab und an von eigenwilligen Cleangesang bereichert wird. Mastermind Andy Schmidt hört sich bisweilen wie eine Art teutonischer Serj Tankian an und begeistert durch maximalen emotionalen Einsatz.

Himmelhoch jauchzend – zu Tode betrübt

Auch der Bühnenhit „Alone I Stand In Fires“ rauscht absolut triumphal am Hörer vorbei. Bis heute klingt niemand so, wie die Band auf diesem Song. So langsam müsste sich doch eine Gurke herauskristallisieren oder? Nö. Der knapp 15-minütige Titeltrack treibt uns mit seinem legendären Violinen-Intro die Tränen in die Augen und wandelt sich in ein absolut himmlisches Werk, welches beinahe die gesamte menschliche Erfahrung in sich zusammenfasst. Melancholie, aberwitzige Raserei, Sehnsucht, Liebe, Hass, Trauer, Glück, Angst und triumphale Euphorie geben sich die Klinke in die Hand. Im Grunde hätte es ja schon gereicht, diesen Song als EP herauszubringen und es wäre die totale Komplettbedienung gewesen. Doch die Leipziger geben uns sogar noch mehr.

„A Day By The Lake“ klingt so, wie der Titel verspricht. Man fühlt sich so, als würde man einen stillen Sommerabend mit einer überirdisch schönen Frau verbringen, welche ätherisch, fern und nicht greifbar ist. Fast so, als würde einen das Mädchen auf dem Cover an der Hand nehmen und uns Geheimnisse aus einer längst vegessenen Welt zuflüstern. Als der ruhigste und atmosphärischste Song der Platte wirkt er so, als hätte Andy Schmidt einen Schlüsselmoment, den es nur einmal im Leben gibt eingefangen und auf Knopfdruck konsumierbar gemacht.

Das ist zwar kein Schwermetall, aber ganz große Kunst, für die es keine adäquaten Worte gibt.

Die verzweifelte Suche nach Mängeln

„The Sleep Of Restless Hours“ ist das letzte Aufbäumen am Ende des Albums. Nach 17 Minuten Action bleibt der Hörer absolut geplättet zurück. Was sind DISILLUSION nur für Kerle? Vergleiche mit anderen Bands hinken, weil es selbst in der engen Nische des Prog Metals nichts Vergleichbares gibt. Warum sind die Leipziger dann keine Weltstars geworden? Nun, bei „Back To The Times Of Splendor“ handelt es sich um eine Leistung, welche man nur einmal im Leben vollbringen kann. Es ist schlicht und einfach nicht möglich, solche Werke am Fließband zu produzieren und im Dreijahrestakt zu veröffentlichen. Beim Nachfolger „Gloria“ hat die Band diesen Fakt verstanden und etwas komplett Neues erschaffen. Leider ist man damit nicht auf Gegenliebe gestoßen und verschwand kurz darauf für fast 12 Jahre von der Bildfläche. Schade … Aber Metalheads sind nun mal engstirnig.

Abschließend muss man konstatieren, dass jeder, der bei „Back To The Times Of Splendor“ nicht die 10 zückt, Kontrolle über sein Leben verloren hat. Wer sowieso von guter Musik verwöhnt ist, findet hier ein Album, welches einem die Begeisterung zurückbringt, die man nach exzessiven Musikkonsum schon mal verlieren kann. Es ist egal, was man sonst so kennt – „Back To The Times Of Splendor“ ist über. Selbst der arroganteste Metal-Snob wird hier in etwa so dreinblicken wie Sam Neill, nachdem er den Brachiosaurus in Jurassic Park gesehen hat.

07.08.2024

Werbetexter und Metalhead aus NRW.

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