Ayreon - 01011001

Review

Was? Sind es schon wieder dreieinhalb Jahre? Als ich die „Human Equation“ Mitte 2004 rezensieren durfte, hab ich mich wohl – vermutlich gerade aufgrund dieser Platte – als der größte AYREON-Fan aller Zeiten gefühlt. Dazwischen sind nun einige Monde ins Land gezogen: InsideOut hat den kompletten Backkatalog neu aufgelegt, Arjen Anthony Lucassen hat seinen Gottgleichheitsanspruch mit dem nur überdurchschnittlichen STREAM OF PASSION haklig verspielt, und ich bin nach zahlreichen Enttäuschungen deutlich nüchterner geworden, was die Vorfreude gegenüber angeblich großen Platten angeht. Dementsprechend kühl haben mich auch erstmal die trockenen Fakten des neuen Lucassen-Epos gelassen: Die üblichen 100 Minuten sind auf 5 Songs weniger aufgeteilt, dafür aber auf 6 Sänger mehr, wovon mit Jonas Renske (KATATONIA), Steve Lee (GOTTHARD), Hansi Kürsch (BLIND GUARDIAN), Ty Tabor (KING’s X), Tom Englund (EVERGREY) und Daniel Gildenlöw (PAIN OF SALVATION) hiermit auch die bekanntesten genannt seien. Auf instrumentaler Seite gibt es nicht nur ein Wiedersehen mit Joost van den Broek (AFTER FOREVER), Ed Warby oder Lori Linstruth, sondern auch den ehemaligen DREAM THEATER Tastenflitzer Derek Sherinian, Tomas Bodin (THE FLOWER KINGS) oder SYMPHONY X’s Saitenschredderer Michael Romeo.

Puh, ganz schön viel Einleitung für ein einziges Album. Aber es kommt noch mehr, denn auch das Konzept wurde wieder mindestens auf Vorgängerniveau zu einer Perfektion getrieben, die diesmal jedoch später für die einzigen Kritikpunkte sorgen wird. So geht es um Geschöpfe namens „Forever“, die auf dem Planeten Y lebend nicht nur Techniken zur Maximierung ihrer Lebensspanne erforscht, sondern sich im Zuge dessen auch von Maschinen abhängig gemacht haben und als Konsequenz daraus gefühlsmäßig ziemlich verstumpften. In ihrer Not machten sie sich einen nahe streifenden Kometen zunutze, der ihre DNA auf eine Erde in frühem Stadium schmetterte, aus der sich schließlich die Menschen entwickelten. Von ihrem Erfolg begeistert setzte sich aber schließlich eine Gruppe der Wesen durch, die den Plan verfolgten ihren quasi-Nachkommen das Wissen noch modernerer Technologien zukommen zu lassen, was Ende des 21. Jahrhunderts zur Gefahr eines drohenden und endgültigen Atomkrieges auf der Erde führt. Und während die Forever noch darum streiten, ob sie sich einmischen sollen oder nicht, sollte spätestens hier jedem Fan auffallen, wie absolut brilliant sich diese Story ins vorhandene AYREON-Universum einfügt.

So, jetzt aber endgültig zur Musik. Wie man aus dem Review bis hierhin schon vermuten konnte, geht selbige diesmal wieder ein gutes Stück zu den Wurzeln zurück, selbst wenn „01011001“ von einem zweiten Teil des elektrischen Schlosses oder des „Dream Sequencers“ weit entfernt ist. Zwar ist die Stimmung ordentlich von einer richtig geilen Science-Fiction-Atmosphäre durchsetzt, doch auch die Fortschritte im Songwriting sind Arjen nicht verloren gegangen. Statt einem inflationären Gebrauch von Frickelmelodien wird also weiterhin jedes Riff und jede Tonfolge mit filigranem Perfektionismus in Szene gesetzt und nimmt damit wie im Vorgänger einen deutlich größeren Raum ein. An dieser Stelle gibt es mit „Beneath the Waves“, „Newborn Race“, „The Fifth Extinction“ und dem abschließenden „The Sixth Extinction“ auch wieder die aus dem Progressive bekannten mehrteiligen Endlossongs, die im Normalfall zehn Minuten locker überschreiten und dem Album einen dicken Stempel aufdrücken. Progtypisch sind diese auch fast immer rhapsodisch aufgebaut, weswegen das Fehlen eines Refrains gleichzeitig zu der Verschmerzung eines vordergründigen roten Fadens führt, und diese Nummern dann meistens den Eindruck chronologisch ablaufender Ereignisse, oder eines Streams Of Consciousness erwecken.

Dass dabei der langen Kompositionszeit entsprechend nur geile Songs rauskommen, versteht sich mehr oder weniger von selbst. Wollte man doch Einzelsongs rauspicken, so käme man weder an dem flockigen 70er Jahre Progsong „Connect The Dots“, oder der fröhlichen Electric-Castle-Nummer „Ride The Comet“, noch an dem rhythmisch wahnsinnig cleveren Metalbrett „E=MC²“ vorbei. Hier nähert man sich dann aber auch einer Erkenntnis, die mich in ihrem Umfang dann doch überrascht hat, nämlich dass die oben kurz zitierte Story erschreckend tiefe Spuren im Albumgefühl hinterlässt. Fans die sich intensiv mit dem Konzept auseinandersetzen wird das ziemlich begeistern, doch Ottonormalhörer, die sich in erster Linie um die Musik kümmern, werden vielleicht etwas stutzig, wenn die komplette erste CD getreu dem mentalen Zustand der Forever ziemlich viele apathische und damit tranige Themen runterkeucht. Da macht die zweite CD mit ihrer neu gewonnenen Hektik und Dramatik schon gleich viel mehr Spaß, denn hier funktioniert auch ohne Vorwissen jeder Song wie Sau. Es geht aber auch schon soweit, dass der abschließende Mehrteiler „The Sixth Extinction“, obwohl er nicht nur das apokalyptische Ende der Menschheit, sondern auch die vollständige Hinterfragung der Existenz der Forever behandelt, was sich ja beides für ein dramatisches Hollywoodepos im Stile von „And Then There Was Silence“ anbieten würde, nach einem spektakulären Anfang mit jeder Menge imaginärer Kriegstrommeln plötzlich schnell wieder auf Distanz geht, um die Pauken und Trompeten lieber etwas nüchterner vom Planeten Y zu betrachten. Rein musikalisch wäre da (trotz der allesamt brillianten Themen) noch mehr drin gewesen, aber so wurde eben das Konzept konsequent beendet. Vielleicht wollte sich Arjen das dramatischste Stück seines Silmarillions aber auch noch für spätere Platten aufheben.

Ein weiteres Problem, das sich durch das knallhart durchgezogene Konzept ergeben hat, ist die Sache mit den vielen Sängern. Klar brauchen zwei riesige Volksstämme mehr Stimmen als eine Ansammlung von Stimmen im Kopf, aber 100 Minuten reichen eben nicht um 17 Sängern den Raum zu geben, den sie benötigen. Neben Floor Jansen, Tom Englund und Anneke van Giersbergen fällt hier aber vor allem Hansi Kürsch positiv auf, der ähnlich wie letztes Mal Devin Townsend frischen Wind in die Runde bringt, und daher auch an ziemlich vielen Stellen richtig herrliche Auftritte hat. Klar haftet seiner Stimme zwangsläufig BLIND GUARDIAN an, aber dennoch singt er ziemlich viele prominente Namen gekonnt an die Wand.

Um also dieses schon fast peinlich lange Review hiermit zu beenden: Wer sich um Songtexte, Konzeptstorys oder ethische Konflikte nen Dreck schert, findet mit „01011001“ eine verdammt geile Progplatte im Bereich einer 8/10 Wertung, die nicht nur bekannt großartige Melodien runterrockt, sondern mit ein paar Themen auch mich noch überraschen konnte. Wer allerdings Lust hat, sich mal wieder so richtig in ein verdammt protziges Stück Kunst einzuarbeiten, und im Optimalfall auch alle anderen AYREON-Scheiben seit „Into The Electric Castle“ im Regal hat, findet hier ein 10/10 Album, das in Zukunft selbst beim Gedanken daran glasige Augen hervorrufen wird. Ich zumindest hab meine Platte des Jahres 2008 frühzeitig gefunden, und werde wohl erst nach mindestens drei Wochen wieder dazu kommen, die Scheibe zurück ins Regal zu stellen.

24.01.2008

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2 Kommentare zu Ayreon - 01011001

  1. Anonymous sagt:

    hach ja. was war das damals für ne offenbarung für mich, als ich mir auf gut glück die \"into the electric castle\" zugelegt habe. jahrelang brauchte ich kaum was anderes, hab sie rauf und runter und wieder rauf gehört und dabei laut und schief mitgesungen. an den beiden \"universal migrator\" cds hat mich schon die strenge trennung in ruhig und heavy gestört, aber jedes album hatte immer noch einige knaller songs, wenn sie auch wesentlich bemühter und weniger entspannt und organisch als auf der \"electric castle\" waren. das \"star one\"-projekt fand ich schwach, aber leider setzte es ein zeichen dafür, welchen musikalischen weg herr lucassen beschreiten wollte. ich will nicht behaupten, dieser weg sei schlecht, aber mein geschmack war es nicht mehr. dann kam \"the human equation\", an der ich ehrlich gesagt fast nur noch die einsätze von devin townsend hörenswert fand (sein einsatz bei day sixteen: loser = bestes gekreische EVER). von entspanntem, aber anspruchsvollem und abwechlungsreichen rock, der einflüsse aus mindestens 4 jahrzehnten rockmusik zu einem harmonischen ganzen fügte, war arjen lucassen zu künstlich um heaviness bemühten, mit jeder menge pathos aufgespritztem metal gekommen. naja, ihm scheints zu gefallen und er macht seine musik ja nun mal vorrangig für sich und nicht für mich. leider! 😉 und nach einem durchhören ist für mich klar, dass \"0101101\" das erste ayreon album ist, das ich mir nicht kaufen werde.

    die riffs können sich nicht entscheiden, ob sie nun melodie- oder rhythmusbetont sein wollen, was für meine ohren dazu führt, dass sie weder melodisch interessant, noch rhtythmisch durchschlagend sind. stattdessen folgen sie meist einfach der gesangsmelodie und bleiben rhythmisch belanglos. die großartigen kanons von der \"electric castle\" fehlen fast völlig und wenn so was ähnliches aufkommt, werden so viele gesangsspuren über einander gelegt, dass nur noch eine fläche statt eines strukturierten gebildes bleibt. 17 sänger sind einfach zu viel. auch die klasse der instrumentalteil der \"electric castle\" wird meiner meinung nach weit verfehlt. die folk-melodien sind im besten fall kitschig, im schlimmsten fall grenzen sie an infantilität. und das mag geschmackssache sein, mir persönlich liegen narrative songtexte eben nicht so sehr, aber arjen lucassens texte sind teilweise erschreckend banal formuliert. beim hören von \"web of lies\" endete wirklich fast jede zeile mit der erwarteten plattitüde, die sich auf die plattitüde in der vorherigen zeile reimte. da sollte er sich vielleicht doch mal von einem muttersprachler unter die arme greifen lassen. für mich mag das ja eine unterhaltsame geschichte sein, aber größtenteils klingt es, als wäre es gewaltsam in eine ansatzweise singbare form gekloppt worden. anscheinend kommt sich aber niemand blöd dabei vor, die refrainzeile \"e equals m c squared\" zu singen, insofern steh ich vielleicht mit meinem eindruck alleine da, aber mir stößt es sauer auf. und wo \"e=mc²\" \"rhythmisch wahnsinnig clever\" ist, konnte ich nicht erkennen. das ist ein vier-viertel-takt mit nem mauen aufguss des riffs von \"immigrant song\" von led zeppelin drüber und nem langsameren refrain dazu. rhythmisch wahnsinnig cleveres bietet ayreon-dauergast ed warby während des orgel-solos auf \"day sixteen: loser\" auf der \"human equation\".

    es tut mir in der seele weh, aber mehr als nostalgie-punkte für die geschichte und handwerkliche punkte für die musikalische leistung sind von mir nicht drin. für mich ist und bleibt \"into the electric castle\" der ayreon-meilenstein, den arjen lucassen bis heute nicht wieder erreicht hat. seit der \"universal migrator\" werden seine werke zunehmend kitschig, bemüht, belanglos und spätestens seit \"star one\" bietet arjen lucassen nichts neues mehr. wenn \"01011001\" zwischen 8 und 10 von 10 punkten liegt, dann liegt die \"electric castle\" bei ungefähr 15 von 10. meine meinung.

    5/10
  2. FreesingFab sagt:

    Ich stimme dem Rezensenten zu: Wenn man sich auf das Storykonzept einlässt, ist das ein Hammeralbum! Ich weiß auch nicht genau, warum man das nicht tun sollte. Wer Ayreon anhört, will sich ja normalerweise mit der Musik und dem Konzept beschäftigen. Um nur ein paar Highlights auf dem Album für mich zu nennen:
    Age of Shadows, Comatose, Newborn Race, Unnatural Selection und the Sixth Extinction (!)
    Die Gesangsleistungen sind über weite Strecken überragend. Die Kritik mit den vielen Sängern kann ich verstehen, auch wenn ich persönlich finde, dass jeder Sänger zur Geltung kommt.
    Mein Vorredner hat mit sehr vielen Worten dargestellt, dass das halt nicht sein Geschmack ist…
    Bei dem Vorwurf die Lyrics seien banal, vor allem bei Web of Lies, hab ich mich aber schon etwas gewundert. Natürlich sind die banal! Sie sollen doch gerade aufzeigen, dass die Menschen auf der Erde sich für den Geschmack der Forever zu langsam und nicht zufriedenstellend entwickeln. Das hat wohl nichts mit Sprachkenntnissen zu tun…

    10/10