Wie würde es klingen, wenn BLINDSIDE und FINCH gemeinsam eine Platte aufnähmen? Natürlich eine höchst spekulative Frage, die allerdings in erster Linie Anschauungszwecken dient – denn was die US-amerikanischen ATTALUS auf ihrem dritten Studioalbum „Into The Sea“ abliefern, kommt einer Antwort unter Umständen recht nahe: Satte 16 Songs mit einer Gesamtspielzeit von knapp 80 Minuten haben die Herren aus Raleigh im US-Bundesstaat North Carolina aufs Band gebracht. Die Tracks sind dabei zweifelsfrei im Rock verwurzelt, bedienen sich allerdings auch immer wieder bei anderen Stilrichtungen wie unter anderem Post-Hardcore, Screamo, Indie- und Post-Rock.
„Into The Sea“ ist ein Konzeptalbum, welches sich – der Titel lässt es erahnen – mit dem Menschen und dem Meer befasst, wobei letzteres auf metaphorischer Ebene natürlich die reißenden Fluten und gefährlichen Untiefen des Lebens symbolisiert, durch dessen Höhen und Tiefen der Hörer gemeinsam mit der Band segelt. Der religiöse Background der US-Amerikaner eröffnet dabei durchaus eine weitere Deutungsebene, wenngleich die Band immer wieder betont, dass zwar alle Mitglieder gläubig seien, ATTALUS aber keineswegs als „christliche Band“ zu verstehen sei.
Django Reinhardt und die Hoffnung
Was die Songs als solche anbelangt, liegt die große Stärke der Platte in ihrer ausufernden Emotionalität: ATTALUS erweisen sich als Meister des Kopfkinos, verweben zerbrechlich-zarte Melodien, ausgefeilte Rhythmen und stürmische Epik, um so immer wieder wahrlich ergreifende Momente zu schaffen. Gleitet der Hörer während des Intro-Tracks „The Ancient Mariner“ noch zu beschwingten Mariachi-Klängen (eine Rocktruppe, die DJANGO REINHARDT als Einfluss angibt, ist mir bislang auch noch nicht untergekommen) und wiegendem Meeresrauschen sanft durch ruhiges Fahrwasser, wird die See spätestens beim Quasi-Opener „This Ship is Going Down“ rauer: Der Track beginnt mit energischem Drumming und luftigen Klavierklängen, ehe melodische, treibende Gitarren in den Vordegrund drängen und für den einen oder anderen Gänsehaut-Moment sorgen. Dazu intoniert Front- und Tastenmann Seth Davey auf ergreifende Weise seine Texte: leidend, zürnend, fauchend, hauchend. Spätestens, wenn der Herr zu akzentuierter Marsch-Snare und sanftem Piano-Pattern „This ship is going down. But you don’t have to sink.“ ins Mikro säuselt, will ich am liebsten die Balkontür aufreißen und heulend durch’s gesamte Viertel brüllen: „Egal wie viel Mist euch widerfahren ist. Es gibt immer Hoffnung! Es gibt immer Hoffnung!„
Aufbruchsstimmung herrscht auch im weiteren Verlauf, wenn ATTALUS Perlen wie das großartige „Sirens“ (BLINDSIDE lassen grüßen) oder den Titeltrack aufbieten, welcher sich von balladesken Klängen hin zu energischen Riffstürmen steigert, wobei der alles überragende Refrain („Dive into the sea, could be the end of me, I get lost in your undertow.“) tagelang im Kopf bleibt. Mit dem angefunkten „The Breath Before The Plunge“ und dem von einer markanten, dezent orientalisch gefärbten Gesangslinie dominierten „O The Depths“ bringen die US-Amerikaner zudem weitere Klangfarben ins Spiel, welche für zusätzliche Abwechslung und Tiefe sorgen. Herausragend ist nicht zuletzt das shoegazelastige „Safe“, welches atmosphärisch unglaublich dicht und packend daherkommt. Übrigens: Wer sich etwas Zeit nimmt und MILHAVENs „DRZ“, MOGWAIs „Hexon Bogon“ und anschließend besagten ATTALUS-Song nacheinander hört, wird ein besonders breites Lächeln im Gesicht haben. Versprochen.
Wenn nichts Außergewöhnliches mehr passiert, haben ATTALUS mit „Into The Sea“ das Rock-Album des Jahres vorgelegt. Die Platte reicht zweifelsfrei an Großtaten wie DREDGs „Catch Without Arms“ oder DEFTONES‘ „Saturday Night Wrist“ heran, zeigt sich aber wesentlich verkopfter und verschlossener – ohne jedoch mit imposanten, einprägsamen Momenten zu sparen. Wer FINCH, BLINDSIDE, BRAND NEW und THRICE zu seinen Lieblingen zählt, kauft sich besser sofort diese Scheibe. Und dann: Segel setzen! „Get lost in your undertow, get lost in your undertow…„
„…reicht zweifelsfrei an Großtaten wie DREDGs „Catch Without Arms“ oder DEFTONES‘ „Saturday Night Wrist“ heran…“…ähm *hüstel*… wohl kaum. Die Attalus-Scheibe ist nicht übel, keine Frage, aber die Kirche sollte doch schon dort bleiben, wo sie hingehört, nämlich ins Dorf. Mal abgesehen davon, dass „Saturday…“ auch keine wirkliche Glanztat ist… Naja, Geschmackssache, ne.