Man könnte an dieser Stelle darüber philosophieren, ob die neun Jahre, die seit dem letzten ATRORUM-Album „Exhibition“ vergangen sind, das Attribut „lang“ (oder möglicherweise die Steigerung „zu lang“) verdienen – und tatsächlich wäre ein knappes Jahrzehnt in der Zeitrechnung anderer Bands ein Zeitraum, der die Hoffnung auf neues Material auf ein Minimum reduzieren würde. Nicht so im Hause ATRORUM: Das dieser Tage über Apathia Records erscheinende dritte Album „Structurae“ wartet mit einer Vielzahl und -falt an Ideen auf, die nicht nur neun Jahre lachhaft kurz für die Entwicklung und Ausarbeitung derselben erscheinen lassen, sondern auch so viel Futter für musikalisch offenen Geist bieten, dass das vierte Album ruhig erst 2024 erscheinen könnte, ohne dass man sich zwischenzeitlich mit „Structurae“ langweilen dürfte.
Diese Erkenntnis – dass das Münchner Duo einen gänzlich anderen Blickwinkel erfordert als die Musik, die sonst auf diesen Seiten besprochen wird – lässt sich auch auf viele andere Aspekte der gut 65 Minuten „Structurae“s erweitern: Vermeintliche Gegensätze sind bei ATRORUM ein derart integraler Bestandteil künstlerischen Ausdrucks, dass es manchmal schwer fällt, sich so weit davon zu lösen, dass die Komplexität und der… ja, Wert, dieser Klänge ins Bewusstsein treten kann – und selbst damit spannen umbrA und vatroS einen Gegensatz (einen meta-Gegensatz quasi…) auf.
Die musikalische Welt ATRORUMs offenbart sich dem Hörer als zerrissene Einheit: Fragmente – stilistisch, klanglich, atmosphärisch – erscheinen auf der Bildfläche, präsentieren sich detailliert, wirbeln umeinander, durchdringen einander und vereinigen sich schließlich zu einem großen Ganzen, das in all seinen Facetten doch eine Integrität ausstrahlt, die selbst eingefleischte Avantgardisten überraschen dürfte. Es ist erstaunlich, wie sich selbst Reggae- und Ska-Einflüsse, sakral anmutende Choräle, „Dreamdance“-Synthesizer, Jazz, Klezmer und sogar folkloristisch angehauchte Klänge stimmig in das schwarzmetallische Grundgerüst der Songs einfügen.
Das klingt in der Theorie sperrig? Ist es auch, ohne jeden Zweifel – und dennoch geht „Structurae“ auf höchst unerwartete Weise ins Ohr, wie die gesanglichen Hooks von „Menschsein“, „Große weiße Welt“, „Camouflage“ und „Verfügung“ eindrucksvoll beweisen: Das Kunststück, dem experimentellen Ansatz genug Raum zu bieten und dabei dennoch etwas zu kreieren, das haften bleibt, gelingt ATRORUM mit scheinbar spielender Leichtigkeit…
…und genau deshalb bin ich mir gar nicht so sicher, ob ich „Structurae“ als U- oder E-Musik ansehen soll: Was ATRORUM auf ihrem dritten Album servieren, ist aus handwerklicher Sicht bis ins letzte Detail (und das umfasst auch die Produktion durch Christoph Brandes, der ähnlich wie Tom Kvalsvoll vor den letzten PRYAPISME-Veröffentlichungen gesessen haben und nahezu verzweifelt sein dürfte…) uneingeschränkt bewundernswert und macht aus meinem inneren Musiker ein Kind am Weihnachtsabend, das mit leuchtenden Augen auf die Bescherung wartet. Auf der anderen Seite ist „Structurae“ jedoch ein Album, das auch „oberflächlich“ betrachtet sehr viel Freude bereitet und enormes Gespür für Atmosphäre und Dramaturgie demonstriert.
Das bringt mich zum letzten Aspekt „Structurae“s, dessen inhärente Diskrepanz ATRORUM auf ihre ureigene Art auflösen: Man könnte angesichts der musikalischen Vielfalt und der sechs (!) Sprachen, in denen die Songs vorgetragen werden (Deutsch, Englisch, Französisch, Spanisch, Latein und Russisch), auf die gar nicht so abwegige Idee kommen, „Structurae“ sei ein Sammelsurium an prätentiöser Dickstrahlpisserei; ATRORUM ein so sehr um Kunst bemühtes Projekt, dass das Resultat gekünstelt klingt. Diese Gefahr umschifft „Structurae“ jedoch von der ersten bis zu letzten Sekunde durch seinen souveränen und vor allem authentischen Charakter, der die Künstler hinter ATRORUM als Menschen zeigt – wenn man genau hinhört…
Klingt interessant.. werd ich mir schnellstmöglich mal anhören!
Anmerkung: Naja, ob „E-Musik“ nun ein zutreffender Begriff ist, sei mal sehr dahingestellt Und ob „E-Musik“ überhaupt eine sinnvolle Kategorisierung für gewisse Arten von Musik ist.
Aber E-Musik hat noch mehr etwas zu tun mit dem Aufgreifen und Weiterführen jahrhundertealter „Traditionen“ und Kompositionstechniken der alten Musik.
Wen’s interessiert, der kann zu dem Thema ja mal folgendes Video anschauen (wenn auch teils unfreiwillig komisch und antiquiert, aber ab 3’45 erklärt er ganz gut, wie E-Musik allgemein verstanden wird. Auch wenn „Britney Spears“ wohl ne andere Kategorie ist als ne proggige Metaband.. Wie gesagt, ich find die Einteilung in E- und u-Musik auch fraglich):
https://www.youtube.com/watch?v=e81_lAwOBgg
Es gibt jetzt das komplette Album im Stream: https://www.youtube.com/watch?v=JYA1YB9w5uI
Viel Spaß!