Atrocity - Todessehnsucht

Review

Es war im Herbst 1992. Auch knapp drei Jahre nach dem Mauerfall stand ich als heranwachsender Jüngling Bauklötze staunend in den für mich noch immer unglaublichen Plattenläden. Dieses riesige Angebot! So viele Bands, die nur darauf warteten, von mir entdeckt zu werden, und dann nur Kohle für eine einzige Scheibe in der Tasche. Es war echt zum Mäuse melken… So auch an diesem Tag, doch da wurde meine ganze Aufmerksamkeit gleich am Eingang auf ein riesiges Plakat gelenkt. Da sah man einen mit Schlamm beschmierten Typen, drei Rosen und einen für meine Begriffe relativ schlichten Schriftzug: ATROCITY „Todessehnsucht“. Und eigentlich nur aufgrund dieses Eindrucks wurde diese Scheibe von mir dann blind verhaftet, nachdem ich in unzählige andere reingehört hatte. Aber es sollte halt diese eine sein, unbedingt.

Todessehnsucht…

Und diese Entscheidung war goldrichtig, das kann man auch ein Vierteljahrhundert später immer noch mit Fug und Recht behaupten. Denn so komplex und gleichzeitig technisch verspielt wie auf „Todessehnsucht“ waren ATROCITY in ihrer langen Karriere nie wieder unterwegs. Daher gilt die Scheibe auch noch heute noch ohne jeden Zweifel als ein absolutes Highlight der Schwaben.

Alleine schon dieser geniale düstere Einstieg in die Scheibe: Nach einem opulenten orchestralen Intro setzt die Band nach und nach schleppend ein. Und dann noch Krulles verzweifelte Worte: „Todessehnsucht, wo bleibt die Gerechtigkeit?“ Gänsehaut pur! Es folgt das Eröffnungs-Doppel „Godless Years“ und „Unspoken Names“, vom feinsten, beide Songs symbolisieren ziemlich gut die Ausrichtung des kompletten Albums. ATROCITY sind hier mit ihrem technischen Death Metal gar nicht so weit vom hoch gelobten Debüt „Hallucinations“ entfernt, präsentieren sich allerdings etwas weniger ungestüm, dafür strukturierter. Von schwer kriechenden Passagen bis hin zum explosiven Geknüppel findet der geneigte Fan das komplette Repertoire und wird dabei immer wieder von einigen unerwarteten Wendungen überrascht. Die Jungs bieten also phasenweise ganz großes High-Speed-Kino, nehmen dann aber umgehend wieder den Fuß vom Gas. Und zwischendurch begeistern einen diese verschrobenen Passagen weit abseits der gängigen Muster.

… wo bleibt die Gerechtigkeit?

Das vom einem sakralen Intro eingeleitete und recht ungewöhnliche „Sky Turned Red“ braucht noch einige Durchläufe mehr als die anderen Songs, entfaltet also eher langsam seine volle Pracht. Dann kommt aber dieser Refrain mit den Mönchschören, sehr edel und einprägsam. Für genau so etwas werden BATUSHKA heute abgefeiert, das gab es aber damals schon. Darauf folgt dann mit „Necropolis“ so etwas wie der Hit der Scheibe. Der Track kommt unglaublich präzise auf den Punkt, trotz komplexer Strukturen.

„A Prison Called Earth“ ist dann mein persönlicher Favorit auf „Todessehnsucht“, und vielleicht einer der meist unterschätzten Songs der Schwaben. Hier wechselt man gleich mal die verschiedenen Geschwindigkeitsstufen brillant durch. Der Song hat zeitweise eine ganze Menge von DEATH, vor allem beim Refrain. Dann wird’s wieder herrlich technisch verspielt und verschroben. Ein kurzer atmosphärischer Break, und letztlich kumuliert der Song im immer wieder wiederholten Nennen des Titels, bevor er immer zäher und doomiger wird, ganz großes Kino! Es folgt der geniale Übergang zur Reprise, die den Reigen passend beendet. Der Kreis schließt sich schleppend, bevor es zum Ende nochmal richtig scheppert. Das Ende. Oder doch nicht?

ATROCITY brillieren auf diesem frühen Klassiker

Nein, denn es folgt noch der DEATH-Uralt-Klassiker „Archangel“. Auch hier machen ATROCITY alles richtig, der Song wird sehr gekonnt interpretiert, bleibt aber dennoch schön nah dran am genialen Original.

Die Höchstnote verhindern eigentlich nur „Defiance“ und mit Abstrichen „Triumph At Dawn“, auch wenn letztgenannter Song eigentlich schon ziemlich geil ist. Bei diesen beiden Titeln zeigen sich ATROCITY bei aller nicht abzustreitenden Klasse etwas unspektakulärer als beim restlichen Material der Scheibe. An anderer Stelle wären also beide Tracks ziemliche Volltreffer gewesen, hier fallen sie ganz leicht ab. Das zeigt das enorme Niveau dieser Hammer-Scheibe.

ATROCITY pflügen auf „Todessehnsucht“ mit spielerischer Leichtigkeit durch die zahlreichen Modi ihrer ganz eigenen Musik. Nie wieder war die Band so technisch verspielt und komplex unterwegs. Das Ganze hat natürlich jede Menge von den ganzen bekannten Tech-Death-Bands, aber mit einer ganz eigenen unverwechselbaren Note. Und genau das hat die Schwaben ja immer ausgezeichnet, egal welche Art von Mucke sie spielen.

03.10.2018
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