Unter "Blast From The Past" erscheinen jeden Mittwoch Reviews zu Alben, die wir bislang nicht ausreichend gewürdigt haben. Hier gibt es alle bisher erschienenen Blast-From-The-Past-Reviews.
Zu den legendärsten Bands des frühen Technical/Progressive Death Metal gehören neben CYNIC, PESTILENCE und den unsterblichen DEATH auch ATHEIST aus Florida. Die als Quartett um Sänger/Gitarrist Kelly Schaefer gestartete Band bezog ihre Einflüsse neben Death und Thrash eklektisch aus Funk, Jazz, Südamerikanischer Folklore, Flamenco und einer räudigen Portion Thrashcore (D.R.I., CRYPTIC SLAUGHTER). Die sozial bewussten, politischen und nichstdestotrotz jugendlichen Lyrics der Band standen 1990 ebenso im Zeitgeist wie die retrospektiv etwas spitz und dünn klingende Scott-Burns-Produktion. Dennoch ist “Piece Of Time” unbestreitbarer Kult, den wir hier näher beleuchten und würdigen wollen.
“Piece Of Time” = Ungestüme Energie + Vollendetes Knowhow
Die vier Typen waren zweifelsohne Musiker mit einer geradezu besessenen Wut im Bauch und erheblichem technischen Können. Glaubt man Kelly Schaefer, wurden beim Songwriting zu “Piece Of Time” gewaltige Mengen Pot geraucht, was man angesichts der schieren Hektik und unzähligen abgefahrenen Breaks auf dem Album kaum glauben kann; zumindest nicht, wenn man dem Klischee der trägen und zur Langsamkeit gezwungenen Stoner-Band anheim gefallen ist. Zudem ist die oben bezeichnete Stilmelange tatsächlich das, was sie auf dem Papier zu sein scheint: innovativ und originell.
Für diese Beschreibung allein reicht schon der titelgebende Opener als ideales Beispiel. Atmosphärisches Intro, krumm getaktetes Bass-Riff, das später von der Gitarre aufgenommen wird, Schaefers heiseres Keifen und noch vor der dritten Minute mindestens sechs Breaks verbraten – im Grunde genommen die Blaupause für den typischen ATHEIST-Song. OBSCURA, die hörbare Fans der Floridaner sind, haben diesen Song übrigens 2012 famos auf ihre “Illegimitation”-Compilation gecovert. Nach viereinhalb Minuten ist der Song dann auch vorbei. Länger werden die übrigen Songs nicht. Die räudig-punkige Einstellung von ATHEIST zeigte sich stets auch in relativ kurzen Platten, deren Gefrickel gezielt und effektiv ist.
Der Song war immer im Vordergrund
Auch wenn “Piece Of Time” eines der klassischsten Alben in der Verbindung aus Prog und Extreme Metal ist, so haben alle Songs viele Momente, die weniger das Gehirn fordern, sondern vielmehr zum stumpfen Abgehen einladen. Der Wahnsinn in “Unholy War”, das hypnotische Hauptriff in “A Room With A View” (hat SENTENCED auf “North From Here” hörbar beeinflusst), das großartige Eröffnungsgalopp in “Beyond” – diese Songs dürften auch in einem verschwitzten Club Spaß gemacht haben. Mit heutigem Taschenrechner-Death-Metal hat “Piece Of Time” insgesamt gar nicht so viel zu tun. Das erneut mit einem großartigen Bass-Riff ausstaffierte “I Deny” (hier könnten möglicherweise CORONER mit ihrem ein Jahr früher auf “No More Color” veröffentlichten “Tunnel Of Pain” Pate gestanden haben) ist dann der vielleicht großartigste Song auf diesem Album. Der Song besteht im Prinzip nur aus Breaks und ungeraden Takten und ist dennoch sowohl eingängig als auch groovy ohne Ende.
Apropos Bass: Leider verstarb Bass-Virtuose Roger Patterson nach der Tour zu diesem Album bei einem Autounfall. Am Songwriting zum Nachfolger “Unquestionable Presence” (1991) konnte er sich allerdings noch beteiligen. Patterson wird unter anderem von Alex Webster (CANNIBAL CORPSE) als wesentlicher Einfluss genannt und dürfte insgesamt eine ganze Generation von Death-Metal-Grenzgängern beeinflusst haben. Solch eine prominente Rolle dürfte dem Bass zuvor auf keiner Death-Metal-Scheibe zugekommen sein. Doch nicht nur ihm muss man größten Respekt zollen. Auch Kelly Schaefer spielte auf dieser Platte neben dem Gesang noch Lead-Gitarre und es ist sich manchmal kaum auszumalen, wie der Mensch seine Hirnhälften neu verdrahtet haben muss, um diese Synchronität hinzubekommen. Nach dauerhaften Problemen mit Karpaltunnelsyndrom und Sehnenscheidenentzündung hat sich Schaefer, der sich einst sowohl bei DROWNING POOL als auch bei VELVET REVOLVER ohne Erfolg als Sänger bewarb, von der Gitarre allerdings zurückgezogen.
ATHEIST haben ein Vermächtnis
Auf dem dritten Album “Elements” (1993) gefiel sich die Band endgültig mit einem Bein in Non-Metal-Musik, bevor es viele Jahre still um die Band wurde. Das gute Reunion-Album “Jupiter” ist inzwischen auch schon wieder zwölf Jahre alt und man hört nicht viel über ATHEIST, die es offiziell aber noch gibt. Nachdem die Band seinerzeit recht coole Gigs gespielt hat und Progressive Death Metal aktuell auch gar nicht so unpopulär ist, hätte man hier eigentlich auf mehr hoffen können. Sei’s drum – von ATHEIST lohnen sich alle Platten, aber der pure, abgefuckte Wahnsinn von “Piece Of Time” ist auch 22 Jahre nach seiner Erstveröffentlichung noch gehobenes Niveau. Das stimmige und auf Shirts und Picture-Discs saucool aussehende Ed-Repka-Artwork runden einen nahezu perfekten Klassiker ab, der nach 32 intensiven Minuten verdientermaßen vorbei ist.
Großartig! Was hätten Atheist für eine Karriere machen können. Schade, dass die denen verwehrt blieb.
danke für das erinnern, gleich mal (nach Ewigkeiten) wie die Vinyl auflegen