Annihilator - Alice In Hell

Review

Nachdem ANNIHILATOR aus dem kanadischen Ottawa fünf Jahre im Untergrund am richtigen Schliff gefeilt hatten, veröffentlichten sie im April 1989 mit „Alice In Hell“ einen Erstling, der folgerichtig über den Status eines Rohdiamanten hinaus ging. Die Scheibe schlug ein wie eine Bombe und avancierte zum bestverkauften Debütalbum auf dem damals topangesagten Roadrunner-Label. Ihr Thrash/Speed Metal war gerade das Ding und platzierte sich stilistisch irgendwo neben Bands wie MEGADETH.

ANNIHILATOR feilen am richtigen Schliff

Wahrscheinlich war es da kein Wunder, dass deren Boss Dave Mustaine auf ANNIHILATOR-Flitzefinger und Bandleader Jeff Waters aufmerksam wurde, als er gerade wieder einen Sidekick an der Leadgitarre suchte. Jeff Waters lehnte ab, um mit seiner Band durchzustarten, und das gelang ja auch, wenngleich mit ein paar Anlaufschwierigkeiten. Denn eine geplante US-Tour mit EXODUS fiel ins Wasser, weswegen die Band stattdessen in Europa mit ONSLAUGHT auf Tour ging. Und dann gab es ja eben auch „Alice In Hell“, das sich nicht nur wie geschnitten Brot verkaufte, sondern auch dem Thrash-Metal-Genre ein paar neue Nuancen hinzufügte.

Zum Quasi-Titeltrack „Alison Hell“ wurde damals ein Video gedreht, das im Musikfernsehen gerne gespielt wurde und für die meisten damals (so auch für den Verfasser dieser Zeilen) der erste Zugang zu ANNIHILATOR wurde; das Video zur Geschichte eines jungen Mädchens, das von Alpträumen geplagt wird, die schreckliche Realität werden. Musikalisch umgesetzt in einer Mischung aus Thrash- und Speed Metal, immer wieder ergänzt von klassischen Akustikgitarrenparts und insgesamt umgesetzt als eine musikalische Erzählung, wo der Text eine gelungene Symbiose mit der Musik eingeht. Nicht zu vergessen, dass sich Jeff Waters ein paar Riffs aus dem Handgelenk schüttelt, die heute zu den Klassikern gehört, die jeder Novize an der Gitarre unbedingt lernen sollte.

Was beim klassischen Akustikgitarrenintro „Crystal Ann“ eine gewisse Herausforderung darstellen könnte: Hier zeigen die Kanadier halt, was eine klassische Musikerziehung alles bewirken kann. Wer denkt, mit dem folgenden Midtempokracher „Alison Hell“ jede Nuance von ANNIHILATOR gehört zu haben, wird mit „W.T.Y.D.“ eines Besseren belehrt: Richtig, schließlich läuft das Album ja auch unter dem Banner Speed Metal – und hier treten ANNIHILATOR noch einmal ordentlich auf das Gaspedal. Wer die genannten Parallelen mit MEGADETH (beispielsweise zum Song „Liar“) sucht, wird hier am ehesten fündig, wobei die Kanadier auf ihrem Album einen deutlich saubereren Sound haben.

Speed und Spiel

„Wicked Mystic“ setzt in Sachen Geschwindigkeit noch einen drauf, zeigt aber auch eine gewisse Verspieltheit, die zumeist von der Gitarre ausgeht, aber auch auf das Schlagzeugspiel von Ray Hartmann abfärbt und den Gummibandbass mit einschließt, der in ein paar der Breaks prominent herausgestellt wird. Übrigens ist der Bass auch immer dann gut zu hören, wenn Jeff Waters mal wieder eins seiner wieselflinken Soli spielt.

An dieser Stelle müssen wir ein Wort über die Besetzung verlieren: Auf dem Backcover erscheinen ANNIHILATOR ja als Quintett, wobei das Album lediglich von Jeff Waters, Drummer Ray Hartmann und Sänger Randy Rampage eingespielt wurde. Bassist Wayne Darley gehörte immerhin fest zur Band, während der zweite Gitarrist Anthony Greenham angeblich nur auf Betreiben der Plattenfirma auf den Fotos landete. Er wurde auf den anschließenden Touren durch Dave Davis ersetzt und hat auf „Alice In Hell“ keine Note gespielt.

Was Jeff Waters wiederum in die Situation brachte, ohne Rücksicht auf Verluste das umzusetzen, was ihm vorschwebte. „Schizos (Are Never Alone) Parts I & II“ zeugt davon: Das ist Technical Thrash mit Speed und Finesse und lässt nicht nur (aber auch) Gitarristen den Sabber aus den Mundwinkeln tropfen. Ein Sahneriff folgt dem nächsten, während der Song ständig neue Wendungen nimmt und, ganz dem Titel entsprechend, musikalischen Wahnsinn verkörpert. „Ligeia“ wiederum wechselt zwischen thrashigem Gesäge und verspielten Breaks ab, während „Human Insecticide“ mit seinen offenen Akkorden einen hervorragenden Abschlusssong abgibt.

„Alice In Hell“ avanciert zum Klassiker

Unterm Strich ist „Alice In Hell“ natürlich ein hervorragendes Album, das neben dem bekannten „Alison Hell“ eine ganze Reihe Krachertracks enthält. Außerdem ist es erstaunlich gut gealtert, vielleicht weil sich seine jugendliche Wildheit am ehesten in der Geschwindigkeit zeigt, es ansonsten aber sehr durchdacht ist. Selbst der kernige, immer wieder durch spitze Schreie durchsetzte Gesang von Randy Rampage klingt in der Rückschau gar nicht mal so abwegig: Rampage, 2018 leider an einem Herzanfall verstorben, setzt seinen Part einfach mit viel Verve um, was heute schon wieder erfrischend natürlich klingt.

Neben den bekannten Thrash-Metal-Alben seiner Zeit fällt es ein wenig aus dem Rahmen, da es neben den genannten Speed-Anleihen auch Elemente aus dem Power Metal inkorporiert. Stellt man beispielsweise „So Far, So Good… So What!“ mit seiner Endzeitthematik dagegen, fallen neben dem Sound auch die inhaltlichen Unterschiede auf. „Alice In Hell“ wirkt dagegen noch ein wenig verspielter und kontrollierter.

Bereits anderthalb Jahre nach „Alice In Hell“ steht bereits der Nachfolger „Never, Neverland“ in den Plattenregalen, das musikalisch in eine ganz ähnliche Kerbe schlägt und mit Coburn Pharr einen neuen Sänger präsentiert. Gerade letzteres sollte sich als Muster in der Bandgeschichte von ANNIHILATOR erweisen – und vielleicht auch als Hypothek, denn wenn auf den ersten vier Alben vier verschiedene Sänger zu hören sind, spricht das nicht gerade für Kontinuität. Aber das ist Stoff für weitere Folgen hier in unserer „Blast From The Past“-Reihe.

30.11.2022

- Dreaming in Red -

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