„Parrhesie“ ist die Redefreiheit, genauer philosophisch ein Gedankenexperiment nach Foucault, was das Aussprechen der eigenen „Wahrheit“ in einem Diskurs ohne jegliche rhetorische Stilmittel, also ohne Manipulation ob bewusst oder unbewusst, wenn man so möchte, bezeichnet. Und musikalisch lässt sich das auf eigentlich die ganze Diskographie der Band ANIMALS AS LEADERS von Gitarrenwunder Tosin Abasi übertragen, der sich frei von jeglichen kreativen wie scheinbar auch menschlichen Grenzen mühelos zwischen Djent-Passagen, Fusion-Einflüssen und Skalen-Finger-Übungen einen wahren Cocktail an musikalischen Einflüssen zu etwas ganz Eigenem verarbeitet. Trotz aller zu bewundernden Instrumentalkunst bleibt die Musik dabei stets nachvollziehbar, meistens zumindest.
ANIMALS AS LEADERS – musikalischer Cocktail (nicht nur) für Musiknerds
Auch „Parrhesia“ ist, ganze sechs Jahre nach dem letzten regulären Album „The Madness Of Many“ von 2016, wieder einmal dieser bunte Blumenstrauss aus sämtlichen Genres, der trotz aller technischen Fertigkeiten nie zu verkopft oder entfernt von der menschlichen Sphäre scheint, um nicht auch Leute begeistern zu können, die keine Musiknerds sind. Opener „Conflict Cartography“ und auch Single „Monomyth“ wissen durch sphärische Abschnitte, Shred und Groove zu begeistern, letzterer ist quasi die Evolution von MESHUGGAH hin zu neuen musikalischen Horizonten, die tighte Grooves auch auf emotionaler Ebene auslösen können, statt nur maschinell-kalt zu wirken.
„Red Miso“ ist keine lauwarme Fischbrühe, sondern abermals eine tolle Mischung aus technisch beeindruckenden wie auch emotional mitnehmenden instrumentalen Meisterleistungen, die wesentlich zurückgelehnter und entspannter daher kommen, obwohl auch hier wieder Low-end-gesättigt die typische Djent-Färbung durchkommt. Wie sonst auch bei ANIMALS AS LEADERS braucht „Parrhesia“ mehrere Umdrehungen, um wirklich hinter die Songs zu steigen, die aber alle erfreulich eigenständig und einprägsam ausfallen.
Auch an die beiden Mitstreiter von Abasi, Javier Reyes an den Saiten so wie Matt Garstka an den Fellen, sei noch einmal absoluter Respekt gezollt. Das was hier zur Unterstützung rhythmisch aber auch leadtechnisch geleistet wir, lässt ein ums andere Mal die Kinnlade herunterklappen. Einen Bass braucht man bei zwei Vertretern mit 8-Saiten-Gitarren auch überhaupt nicht mehr, der Part wird gleich von Reyes und Abasi mit übernommen. Auch die Produktion, erneut in den Händen von heimlichem vierten Bandmitglied Misha Mansoor (PERIPHERY), ist ein absolutes Sahnehäubchen.
Modern, transparent, durchschlagskräftig, aber nicht steril, immer noch genug Dynamik und Raum bewahrend. Wo genau „Parrhesia“ im Kontext der Diskographie von ANIMALS AS LEADERS einzuordnen ist, ist gar nicht so einfach zu beantworten. Wahrscheinlich irgendwo zwischen der neu gefundenen Experimentierfreunde und teilweise auch Leichtigkeit von „Weightless“ und auch „The Joy Of Motion“ und der atemlosen Technik des Erstlingswerks. Dabei aber auch nicht so vollkommen technisch abgefahren und gleichzeitig einfacher zugänglich, wahrscheinlich die am besten am Stück durchhörbare Platte (auch wohl eine der kürzesten mit unter 40 Minuten) von ANIMALS AS LEADERS, wonach auch nach dem ersten Durchgang am meisten im Kopf bleiben wird. Das bedeutet aber nicht zwangsläufig, dass ANIMALS AS LEADERS nun „simpler“ geworden sind. Verträglicher ja, weniger progressiv, in Ansätzen vielleicht, verglichen mit „The Joy Of Motion“ oder „The Madness Of Many“, aber es ist nicht so, als ob AAL nun einfach eingängigen Pop machen würden.
„Parrhesia“ startet und endet stark, verliert sich auch aber ein wenig in der Beliebigkeit
Trotz erneut famosen instrumentalen Fähigkeiten wie auch interessantem Songwriting gleicht allerdings der Mittelteil des Albums in seiner Herangehensweise und Stimmung sich doch ziemlich, trotz großer stilistischer Breite mit toll platzierten und eingesetzten Synthies in wirklich allen Songs von „Gestaltzerfall“ bis hin zu „Thoughts And Prayers“. Trotz aller offensichtlichen Vorzüge und Stärken stehen sie hinsichtlich so etwas wie „Hit-Qualitäten“ hinter dem starken Anfang wie auch Abschluss von „Parrhesia“ zurück. Mitnichten schlechte Songs, aber innerhalb der AAL-Diskographie wahrscheinlich auch keine neuen Kandidaten für eine neue Live-Setlist. Die wirklich packenden Parts fehlen hier ein wenig, die Abgrenzung zwischen den Songs fällt ein wenig schwieriger aus und lässt sie mehr in einer amorphen Masse verschmelzen, anstatt eine eigene Identität aufweisen zu können, wie es die eröffnenden drei Songs des Albums noch gut leisten können.
Mit „Gordian Naught“ wird dann mit dem absoluten Highlight von „Parrhesia“ entlassen: Zwischen Struktur, wunderbar proggigem, aber auch gefühlig ausfallendem Noten-Reiten und dem brutal-asozialen Chugging-Ende, das schon verflucht simpel für AAL-Verhältnisse zu nennen ist, aber trotzdem effektiv die Arbeit als Vorschlaghammer erledigt, ist das quasi die Zusammenfassung der Dynamiken von ANIMALS AS LEADERS fünf Alben tief in der Karriere: Hohe technische Leistungen, Low-End-Abrissparts, aber auch moderne Soundlandschaften mithilfe von Synthesizern, 8-saitigen Gitarren und ungewöhnlichen Anschlagtechniken und Rhythmen, die keine blosse Kopien anderer Bands oder Künstler sind, sondern etwas wahrlich Eigenständiges schaffen. ANIMALS AS LEADERS bleiben eine spannende instrumentale Metalband, auch auf „Parrhesia“, geben sich aber leichter zugänglich und in Teilen leider auch ein wenig beliebiger verglichen mit den doch etwas experimentierfreudigeren Vorgängern. Trotzdem sei „Parrhesia“ dringendst allen Metal-Mathematikern, aber auch Shred-Freunden von YNGWIE MALMSTEEM bis hin zu Fans von modernen Kapellen wie TEXTURES, INTERVALS und Co. angeraten.
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