„We’re here because we’re here“. Man kann vom Titel des neuen ANATHEMA-Albums, das ursprünglich als „Horizons“ angekündigt war, halten, was man will. Festzustellen ist: ANATHEMA sind wieder da! Ganze sieben Jahre hat es gedauert, seit „A Natural Disaster“ war es lange Zeit recht still um die Briten, sieht man von den zwei DVD-Veröffentlichungen und dem schönen aber nicht mit neuen Songs glänzenden „Hindsight“ einmal ab.
Schon der erste Hördurchlauf, im Grunde die erste Minute des Openers macht klar, was bislang nur zu hoffen blieb: Dass ANATHEMA trotz Weiterentwicklung immer noch unverkannbar dieselben sind, mit all den Trademarks, die sie auszeichnen.
Die Band ist immer noch eine der melancholischsten und emotional packendsten, die man sich vorstellen kann. Verträumter Rock mit harten Elementen, das trifft „We’re Here Because We’re Here“ wahrscheinlich sehr gut. ANATHEMA verstehen sich weiterhin exzellent darauf, wunderschöne Melodien mit tosendem Riffing und einer der charakteristischsten und fragilsten Stimmen, die das Genre zu bieten hat, verschmelzen zu lassen. Dabei erfindet die Band sich nicht wirklich neu, aber das braucht sie auch überhaupt nicht, wenn aus Altbewährtem ein so schönes Album entstehen kann.
Dynamik wird bei ANATHEMA immer noch großgeschrieben. Dabei ist es nicht nur der Wechsel zwischen lauten und leisen Passagen, der der Band ihre Dynamik verleiht: Es ist das Hin- und Herwerfen des Hörers, das Ihn-träumen-lassen und Unsanft-aus-dem-Traum-reißen, das die Briten scheinbar spielerisch beherrschen. Es ist die Kombination harter Rockgitarren, atmosphärischer Ambientalpassagen, das Wechselspiel zwischen Vincent Canavagh und Lee Douglas, die vom ausgelutschten Die-Schöne-und-das-Biest-Klischee nicht weiter entfernt sein könnten.
Man könnte sich fragen, ob man „A Natural Disaster“ und „We’re Here Because We’re Here“ die Differenz von sieben Jahren anhört. Die Antwort muss differenziert ausfallen. Die Unterschiede sind sicherlich nicht so gewaltig wie z.B. der Sprung von „A Silent Enigma“ zu „Eternity“, aber die Entwicklung ist dem neuen Album deutlich anzuhören. ANATHEMA stagnieren nicht, wenngleich „We’re Here Because We’re Here“ dem Pfad folgt, der mit „A Natural Disaster“ bereits beschritten wurde. Im Übrigen, aber das muss ich noch genauer erklären, hört man dem neuen Album auch „Hindsight“ sehr deutlich an. Was also ist das neue Album? Es ist die konsequente Weiterentwicklung von „A Natural Disaster“ und „Hindsight“, das Verfeinern des Stils, den ANATHEMA offenbar für sich gefunden haben. Gleichzeitig ist es merklich vielschichtiger, reifer und allem voran konsequenter als das letzte Album. Dass die Briten ihren Stil gefunden haben, beweist vorallem die Homogenität des Albums, die der Vorgänger so nicht bieten konnte. Während „A Natural Disaster“ mehr ein Sammelsurium schöner Songs war, die nicht immer ganz zusammen zu passen schienen, wirkt das neuste Release der Band wie aus einem Guss – ein Ausreißer, wie ehemals „Pulled Under 2000 Metres A Second“ ist nicht mehr dabei.
Obgleich ANATHEMA weiterhin mustergültiges Beispiel für Melancholie bleiben, hat sich auch inhaltlich einiges getan. Die Band scheint einen weitaus positiveren Approach zu haben als es ehemals der Fall war. Das zeigt sich nicht nur an den Lyrics, sondern spiegelt sich in der Musik, die trotz ihrer Fragilität und Melancholie ungleich hoffnungsvoller, wärmer und offener erscheint, wider. Man könnte lästern, dass ANATHEMA auf ihre „alten Tage“ weich werden. Zumindest „Everything“, das mir persönlich zu seicht dahinplätschert, erweckt auch bei mir solch lästerliche Gedanken. Mit einer ganzen Riege fantastischer Songs (Darunter zwei, die die Fans schon von der Website kennen) widerlegt die Band diese Annahme aber eindrucksvoll. Songs wie das großartige „Angels Walk Among Us“, der vielleicht stärkste Track „A Simple Mistake“, der sofort mitreißende Opener „Thin Air“ und das auf wundervolle Art und Weise mit zarten Streichern unterlegte „Universal“ zeigen, dass ANATHEMA im Jahr 2010 angekommen sind und nichts von ihrer Stärke verloren haben.
Es ist sicherlich schwierig, bei ANATHEMA Vergleiche zu ziehen. Wahrscheinlich kann „We’re Here Because We’re Here“ sich nicht wirklich mit „The Silent Enigma“ oder „Judgement“ messen. Das schöne ist: das muss es auch nicht wirklich, genau so wenig wie man bei KATATONIA ewig Vergleiche zu dem überragenden „Brave Murder Day“ ziehen sollte.
Das neue Album stellt für mich nicht nur eine starke Weiterentwicklung zum Vorgänger, mit dem man es durchaus vergleichen kann und sogar sollte, dar, sondern vereint fast alle Stärken ANATHEMAs in sich: Fragilität und Kraft, Melancholie und Wärme, Verzweiflung und Hoffnung. Wer kein grundsätzliches Problem mit lebens- und liebesbejahenden Statements a la „…if you could love enough, you would be the happiest and most powerful person in the world“ (die im Kopf bleibenden letzten Worte des Albums) hat, der kommt um „We’re Here Because We’re Here“ schwerlich herum.
Ich hätte nie gedacht, dass die mal etwas so positives rausbringen und gleichzeitig ihr Stil so ähnlich bleibt. Viele Wiederholungen, ohne dass Langeweile aufkommt, da immer geringfügig variiert wird, und die Details wahnsinnig gut ausgearbeitet sind. Die Melodien und Songstrukturen sind zwar nichts bahnbrechend neues, aber wer braucht das schon, wenn das Gesamtkonzept und vor allem der Sound so gut gelungen sind? Das Ganze ist ein melancholisches, erlösendes \"Ja\" zum Leben, wie aus einem Guss, ein Batzen Energie. Das Cover fand ich erst einfallslos, passt aber zur Musik wie die Faust aufs Auge… (\"Emo\" waren sie höchstens vor ein paar Jahren, als die heutige Emoszene noch in den Kindergarten ging, oder in Abrahams Wurstkessel schwamm)