Amorphis - Elegy

Review

Es muss schon eine anstrengende Zeit gewesen sein, die hinter AMORPHIS lag, als sie mit “Elegy” den Nachfolger für ihr “Tales From The Thousand Lakes”-Album aufnahmen: Immerhin mauserte sich das 1994er-Album zu einem Publikumsliebling, das für nicht wenige Heranwachsende zu einem Dosenöffner für harte Metalklänge wurde. Wie sollte man an diesen Erfolg am besten anknüpfen?

Die Hälfte neu bei AMORPHIS

Das war nicht zuletzt deshalb eine relevante Frage, weil der erst zu dieser Zeit in die Band gekommene Keyboarder Kasper Mårtenson das Tourleben nicht besonders genoss und nach einer gemeinsamen Konzertreise durch Europa wieder das Weite suchte. Ville Tuomi, einst für den cleanen Gesang engagiert, war sowieso nicht fest mit dabei, und dann sprang im Vorfeld auch noch Drummer Jan Rechberger ab – AMORPHIS mussten also mal eben eine halbe Truppe neu zusammentrommeln. Ersatz findet sich in Pekka Kasari an den Drums, Pasi Koskinen am Mikro und Kim Rantala an den Tasten.

Mit drei neuen Mitgliedern sind AMORPHIS nicht nur eine runderneuerte Band, sondern auch eine, die eine musikalische Entwicklung durchmacht. Rantala bringt sich gleich beim Songwriting mit ein und schreibt beispielsweise den Titeltrack des Albums. Ein von Koskinen komponierter Song landet wiederum auf der nach “Elegy” veröffentlichten EP “My Kantele”. Aber wie gesagt, sie bringen sich mit ein, und damit geht kein Stilbruch einher. Eine Änderung gehen die Mitglieder aber ganz bewusst an: Die Texte entstammen dieses Mal nicht mehr dem finnischen Nationalepos Kalevala, sondern sind inspiriert von der Kanteletar, einer 1840 von Elias Lönnroth kompilierten Sammlung traditioneller Balladen und Gedichte.

Renovierung im Death-Metal-Mekka

Bei der Wahl des Studios geben sich AMORPHIS aber ganz traditionsbewusst und wählen das Death-Metal-Mekka, das Sunlight Studio in Stockholm. Pech ist nur, dass das Sextett nicht alle Spuren fertig bekommt und in andere Studios ausweichen muss, da good old Sunlight einer nicht aufschiebbaren Renovierung unterzogen werden muss. Am 14.05.1996 kommt “Elegy” aber schließlich in den Handel, knapp zwei Jahre nach dem Vorgängerwerk.

Und die ersten Klänge zeigen direkt eine Mischung aus Kontinuität und Wandel: Denn statt eines Intros ertönt mit “Better Unborn” gleich der Opener. Der allerdings setzt auf einige vom Vorgängerwerk bekannte Trademarks: Dazu gehören die orientalisch angehauchten Gitarrenmelodien und der tonlos gegrunzte Gesang von Rhythmusgitarrist Tomi Koivusaari. Dafür steht der stampfende Rhythmus, das prominent eingesetzte Wah-Wah-Pedal und die sparsamer angeschlagene Sitar von Leadgitarrist Esa Holopainen für den neuen Sound. Nicht zu vergessen, dass Pasi Koskinen deutlich mehr Gesangsanteile übernehmen darf als sein Vorgänger.

Dagegen gibt sich das folgende “Against Widows” sehr traditionell und hätte so auch auf “Tales From The Thousand Lakes” stehen können – selbstverständlich als weiteres Highlight im Stile ihres melodischen Death Metals. Eher bedächtig entwickelt sich “The Orphan”, um im instrumentalen Finale zwischen schwerer Epik und folkiger Eingängigkeit zu pendeln. “On Rich And Poor” zeigt die songschreiberische Entwicklung der Band: Das Lied startet mit einem prägnanten Gitarrenthema, das die Funktion des Refrains übernimmt (und das man gerne noch Stunden, nachdem man es gehört hat, vor sich her summt).

Techno in a traditional world

Der später im Rahmen einer EP ausgekoppelte Song “My Kantele” wiederum gibt sich äußerst melancholisch (und in der am Ende des Albums stehenden Acoustic Reprise zudem äußerst sanft). Womit wir beim abgesteckten musikalischen Rahmen sind: “Cares” zeigt nämlich sehr schön auf, wie weit AMORPHIS im Jahr 1996 bereit sind zu gehen. Da moduliert das Stück erst in eine Art Marschrhythmus, um schließlich bei Technoklängen zu landen. Klar, das gab es so ähnlich auch schon bei “Magic And Mayhem” auf dem Vorgängerwerk, aber vielleicht nicht so deutlich und ausgeprägt.

Bei “Weeper On The Shore” greifen die Finnen erst einmal ganz beherzt in die Saiten ihrer Akustikgitarren, um beim Titeltrack noch einmal die ganz große Epik hervorzuholen. Mit dem vierminütigen Instrumental “Relief” setzen AMORPHIS dann zum großen Finale an, das vielleicht abzüglich der Flanger-Effekte so auch auf dem 1994er-Album hätte stehen können – wie einige der anderen Stücke auch.

Dennoch ist die musikalische Entwicklung nicht zu überhören: “Elegy” hat einen nicht ganz so konsistenten, einheitlich schweren Sound, sondern wirkt leichter, vielfältiger. Der Grund: Die Finnen wählen für jeden einzelnen Song einen eigenen Ansatz – sei es im Arrangement oder im Ausdruck. Und das ist zunächst einmal ganz wertfrei gemeint, da geht es noch nicht um gut oder besser (schlecht wäre in diesem Zusammenhang eh ein unangemessenes Wort).

„Elegy“ wirkt leichter (jedenfalls als sein Vorgänger)

Wagen wir aber trotzdem mal eine Wertung: Wahrscheinlich stehen auf “Elegy” mehr Songs, an die man sich aktiv erinnert. In Summe hat “Tales From The Thousand Lakes” aber vielleicht doch mehr Fanherzen berührt, entzündet und für die Geschichten, Geheimnisse und die Magie der tausend Seen begeistert. Und wenn ein Detail den Ausschlag geben muss, dann ist der cleane Gesang von Ville Tuomi doch prägnanter und ungewöhnlicher als der von Pasi Koskinen.

Für AMORPHIS ist “Elegy” übrigens das erste Album gewesen, das in Deutschland in den Albumcharts gelandet ist: Mit einem Peak auf Platz #67 hielt es sich insgesamt acht Wochen in den Charts – letzteres übrigens bis heute nicht mehr getoppt. Auch nicht vom Nachfolgealbum “Tuonela”, das nach knapp drei Jahren endlich erschien und die Hörer in die Unterwelt entführte. Das ist aber Stoff für eine weitere Episode in dieser Rubrik – wenn Ihr denn wollt und Euch nicht mit unseren beiden Verrissen (beziehungsweise Halbverrissen) von anno dazumal zufrieden geben wollt.

01.11.2023

- Dreaming in Red -

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