Alcest - Kodama

Review

Ich möchte nicht über „Kodama“ von ALCEST schreiben. Ich habe Sorge, dass ich etwas kaputt mache. Das neue Album des französischen Blackgaze-Duos ist das bezaubernste, schönste, fragilste, aber auch roheste Stück Musik, das ich seit Langem gehört habe.

Dabei wurde ausgerechnet am Vorgänger „Shelter“ doch so gerne herum gemäkelt, weil er in den Ohren Vieler zu sehr nach Indie klang, und doch eigentlich das demonstrierte, was so wenigen Bands gelingt: Eine echte stilistische Weiterentwicklung, ohne die eigenen Wurzeln zu verraten oder etwas schon Vorhandenes zu kopieren.

Ein Blick in die Vergangenheit – aber kein Schritt zurück

Wenn Mastermind Neige nun doch verzweifelt keift und sich markige Riffs verzerrter Gitarren übereinander legen, könnte man unterstellen, dass ALCEST mit dem fünften Studioalbum den im Jahr 2014 eingeschlagenen Weg wieder verlassen haben, um sich ihrer Vergangenheit zuzuwenden. Und sicher ist „Kodama“ stilistisch wesentlich näher am Klassiker „Écailles De Lune„, als an „Shelter„. Von einer Entwicklung zurück kann jedoch keine Rede sein.

Aber da hat sie begonnen, die Zerstörung: Liebe Leser, ich nehme Abstand! Sie wurden soeben nicht, ich wiederhole, nicht! aufgefordert, das neue ALCEST-Album in den Player zu schieben und hemmungslos mit den Vorgängeralben zu vergleichen. Stattdessen empfehle ich einen trockenen Rotwein, Kopfhörer und zur Vorbereitung einen wirklich ätzenden Tag auf der Arbeit, an der Uni oder sonstwo. Bitte fühlen Sie sich deplatziert, genervt und zerrissen, wenn Sie „Kodama“ zum ersten Mal auspacken. Vergessen Sie, wo Sie sind.

Ein Stück akustische Seele für offene Ohren

Nehmen Sie sich Zeit, den Schuber aus dem Digipac heraus zu fummeln und betrachten Sie in Ruhe die magisch-verstörenden Zeichnungen, die an japanische Manga-Kunst angelehnt sind. Im Hintergrund wirkt der Titelsong „Kodama“ möglicherweise zunächst belanglos und austauschbar. Schnell verdichtet sich der Track mit verzerrten Gitarren und ruhiger Rhythmik aber zu einer komplexen Klangwand, in der Neiges warmer Klargesang sich nicht als formgebendes Element abhebt, sondern wie ein weiteres Instrument die Atmosphäre stützt. Ein wenig überrascht, fühle ich mich von den ruhigeren Parts an TOOL erinnert und das Zeitgefühl geht verloren. Der folgende Titel „Eclosion“ bringt es fertig, gleichzeitig vergnügt und todtraurig zu klingen und befördert durch seelenzerfetzendes Gekeife ALCESTs Black Metal-Wurzeln an die Oberfläche. „Je Suis D’Ailleurs“ erzählt wahrlich vom Woanders-Sein, wenn treibend-melancholische Gitarren sich über fernes Rufen aus der Kehle von Sänger Neige legen und ruhige Parts an Sonnenuntergänge in der Einsamkeit denken lassen. „Untouched“ beginnt mit zarter Gitarre und indianisch wirkendem Klargesang. Melodiös-melancholisch schraubt sich der vierte Titel ins Herz und hinterlässt ein Gefühl von Vertrautheit, ehe „Oiseaux De Proie“ an DREDG und TOOL erinnert, bevor es sich in grungige Untiefen stürzt und schließlich jeden Vergleich hinter sich lässt. Der letzte Titel „Onyx“ breitet einen mystisch-elektronischen Trauerteppich aus und scheint in der Muskulatur zu beben, ehe Stille die knapp 45-minütige Tour de Force beendet, die ALCEST uns mit ihrem fünften Studioalbum bereiten.

„Kodama“ ist das „japanische Album“ von ALCEST

„Kodama“ ist das japanische Wort für „Baumgeist“ oder „Echo“ und das ebenso betitelte Album greift das Schicksal der Titelheldin aus dem Anime-Klassiker „Prinzessin Mononoke“ auf, indem es ein Gefühl von Nichtzugehörigkeit zu vertonen versucht. Die Rechnung geht auf, denn das „japanische Album“ von ALCEST packt den Hörer vom ersten Takt an bei der Seele. Zusatzpunkte gibt es für das großartige Coverartwork, das MP3-Käufe des Albums zur Schande verkommen lässt.

Wie von ALCEST gewohnt, leben die sechs Songs von ihrer Atmosphäre und vom Spiel mit Gegensätzen. Mehr aber, als etwa auf „Les Voyage De L’Âme“ gelingt es dem Duo hier, völlig unterschiedliche Klangwelten zu erzeugen und unter Wahrung eines knallroten Fadens zu einem geschlossenen Albumpaket zu verbinden. Und damit entwickeln sich ALCEST eben nicht in erster Linie wieder weg von „Shelter“, sondern schreiten den Weg von vor zwei Jahren mit mehr Härte, mehr Rohheit weiter ab.
Vielleicht trifft „Kodama“ nur meinen persönlichen Nerv, vielleicht ist es einfach ein großartiges Album. Die Empfehlung bleibt dieselbe:

Ein Meisterwerk für stille Momente

Lieber Leser, vergessen Sie, dass Sie diesen Text gelesen haben. Bitte besorgen Sie sich „Kodama“ und ein Glas Wein – und verreisen Sie, nach Japan, in die Ungewissheit, egal. ALCEST haben eine Klangwand geschaffen, die den Hörer an einen Ort bringt, an den einen nur alle paar Jahre mal ein Album tragen kann.

29.09.2016
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